Süddeutsche Zeitung

Handball:Spuren der Schlacht

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Viele Verletzungen, zu hohe Erwartungen: Johannes Sellin hat den Konjunktiv endlich besiegt. Jetzt hat sich der Rechtsaußen beim HC Erlangen zu einem Führungsspieler aufgeschwungen.

Von Sebastian Leisgang

Als die Uhr in roten Zahlen 41 Minuten und ein paar Sekunden anzeigte, da hatte sich alles gedreht. Die Leute auf den Tribünen waren sich nicht bewusst, welches Gewicht dieser Augenblick hatte, doch spätestens in diesem Moment, spätestens da war Johannes Sellin angekommen beim HC Erlangen.

Sellin stand in der Nürnberger Halle, Kiel war gerade in Ballbesitz, und Sellin ruderte mit den Armen. Erlangen lag mit drei Toren zurück, und wer das Ende kennt, der wird an dieser Stelle sagen: In dem Moment zeichnete sich die Niederlage ab. Sellin ruderte also mit den Armen, um die Zuschauer zu animieren.

Man muss dazu wissen: Es gab Zeiten, in denen es die Leute auf den Tribünen waren, die mit den Armen ruderten. Sie wussten zwar immer, zu was Sellin eigentlich imstande ist; weil sie es aber nur selten zu sehen bekamen, fluchten sie auf den Tribünen, wenn Sellin bei einem Tempogegenstoß mal wieder auf das gegnerische Tor zulief und den Ball nicht unterbrachte. Irgendwann wurde aus dem Fluchen ein aufgebrachtes Armerudern oder ein resignierendes Seufzen: Allmächt, der Sellin scho widder.

Jetzt aber, jetzt wandte sich Sellin an die Zuschauer.

Gut eine halbe Stunde später steht Sellin, 28, in den Katakomben der Nürnberger Halle und stemmt beide Hände in die Hüfte. Soeben hat Erlangen in der Handball-Bundesliga vor 7122 Zuschauern 27:31 (13:14) gegen den THW Kiel verloren, Sellin hat vier Tore erzielt, eine passable Zahl. "Ich denke, es war okay, es war kein Topspiel", sagt Sellin zu seiner Leistung. Dass der Rechtsaußen nicht einmal dann zufrieden mit sich selbst ist, wenn er gegen den Rekordmeister viermal erfolgreich ist, das sagt eine Menge aus.

Als Sellin 2017 nach Erlangen kam, hatte er gerade eine exzellente Saison in Melsungen gespielt. Er war der drittbeste Torschütze der Bundesliga, er war Nationalspieler, er war Europameister. Erlangen brüstete sich damit, einen Spieler wie ihn für sich gewonnen zu haben. Vermutlich waren es auch diese Umstände, die sich damals bemerkbar machten, als Sellin im Erlanger Hemd aufs Spielfeld lief. Sellin hatte jetzt etwas zu verlieren, und man darf das nicht als nichtig abtun, was das heißt: etwas zu verlieren zu haben. Wer etwas zu verlieren hat, kann erdrückt werden, gerade weil er etwas gewonnen hat.

"Es war schwer, Fuß zu fassen", sagt Sellin in den Katakomben und schaut auf den Boden, "ich habe mich selbst unter Druck gesetzt, die Leute wollten was sehen, der Verein wollte was sehen." Er macht keinen Hehl daraus, dass all das zu dieser Zeit in erster Linie eine Bürde für ihn war, der Fluch der guten Tat, der Erfolg als Hypothek, wenn man so will. "Natürlich spielt da die Psyche eine Rolle", sagt Sellin und räumt ein: "Ich war nicht auf der Höhe."

Er kam, er sah, und er verlor. So war es zu Beginn, nicht zuletzt, weil ihn immer wieder Verletzungen zurückwarfen. Im September 2017: ein Bruch des Ringfingers der rechten Hand. Im November 2017, kurz nach seiner Rückkehr aufs Spielfeld: ein Bänderriss im Daumen. Und schließlich, im April 2018: ein Sehnenabriss im linken Oberschenkel. Sellin zeigt seine Handflächen und fährt sich über die malträtierten Finger. An ihnen lässt sich ablesen, was er durchgemacht hat. "Ich habe am Anfang einiges mitgenommen", sagt Sellin.

Jetzt aber, jetzt erfüllt er jene Erwartungen, die die Leute schon vor zweieinhalb Jahren an ihn gerichtet haben. Jetzt ist Sellin kein Was-wäre-wenn-Spieler mehr, er hat den Konjunktiv besiegt. Jetzt spielt Sellin gut. So gut wie in Melsungen, als er Nationalspieler geworden ist? Sellin spielt wieder an seinen Fingern herum, dann sagt er: "Man kann sehen, dass die Konstanz wieder da ist, aber meine Quote, die ich momentan habe, ist sogar besser - ich kriege bloß weniger Bälle als in Melsungen."

An diesem Donnerstagabend wirft Sellin siebenmal aufs Tor. Es ist kein Spiel, in dem sich Sellin mit einer besonders guten Quote auszeichnet. Aber: Die Leute seufzen nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019
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