Süddeutsche Zeitung

Handball:"Es zerreißt mir das Herz"

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Die Verletzung von Gisli Kristjansson überschattet Magdeburgs Bundesligasieg über die Füchse Berlin. Trainer Bennet Wiegert zweifelt sogar an seiner Spielphilosophie.

Von Tim Brack, Magdeburg/München

In der Pandemie ist es auch in der Bördelandhalle, sonst bekannt durch die lautstarken Fans des Handball-Bundesligisten SC Magdeburg, weitgehend still. Am Sonntagnachmittag erfüllte jedoch ein lauter Schrei die Halle, der unermesslich viel Leid und Verzweiflung in sich trug. Gisli Kristjansson, Rückraumspieler des SCM, fasste sich nach einer unglücklichen Landung nach einem Zweikampf an die linke Schulter, Schmerz verzerrte sein Gesicht.

Kristjanssons Schrei im Spiel gegen die Füchse Berlin war nicht allein dem physischen Schmerz geschuldet, das konnte man ahnen, sondern auch einer ausgeprägten Leidensgeschichte. Der Isländer ist trotz seiner erst 21 Jahre vertraut mit Schulterverletzungen. Seit 2019 fiel er wegen dreien davon aus, zweimal erwischte es die rechte Wurfhandseite, nun zum zweiten Mal auch das linke Gelenk. Wie der Klub am Montag mitteilte, bestätigte eine MRT-Untersuchung die ersten Befürchtungen: Eine Operation ist nötig, eine erneut längere Pause die Folge.

Füchse-Spieler Fabian Wiede war einer der Ersten, der Trost spendete und Halt gab. Kristjansson weinte an der Schulter des deutschen Nationalspielers, der so eine Art Leidensgenosse ist. Im Januar hatte Wiede auf die Weltmeisterschaft in Ägypten verzichtet, weil er nach einer Schulterverletzung gerade erst wieder zurückgekommen war. "Es war extrem bitter. Das tut mir extrem leid", sagte der Linkshänder: "Da ist jeder Sportler geschockt, weil man so etwas keinem wünscht, an den Menschen denkt und nur das Beste für ihn hofft."

Die Verletzung in der 54. Minute rückte den souveränen 29:24 (12:11)-Sieg der Magdeburger gegen den Rivalen aus Berlin in den Hintergrund. Die Worte von SCM-Trainer Bennet Wiegert, 39, am Sky-Mikrofon erzählten im Anschluss von großer Verbundenheit zu seinem Spieler. "Er hat unheimliche Schmerzen. Der ganze Kabinengang ist voller Geschrei. Es zerreißt mir das Herz", berichtete Wiegert. Der sichtlich aufgewühlte Trainer hinterfragte sogar seine Ideen und Vorstellungen vom Handball: "Ich überlege, ob die Spielphilosophie, die ich für den SC Magdeburg als richtig und auch als attraktiv erachte, in der Bundesliga manchmal die richtige ist."

Magdeburgs Trainer Wiegert fordert mehr Schutz für die Spieler

Wiegerts Handball schert sich nicht um Konventionen. Der Trainer verzichtet fast vollkommen auf klassische Rückraum-Shooter, die großgewachsen sind und für sogenannte einfache Tore sorgen. Nur einen Zwei-Meter-Mann haben die Magdeburger in ihrem Rückraum, den Polen Piotr Chrapkowski (2,03). Stattdessen verordnet Wiegert schnellen Handball, mit vielen Durchbrüchen, zahlreichen Zweikämpfen. Sein Personal ist entsprechend flink und trickreich. Für die Zuschauer ergibt sich aus dieser Mixtur streckenweise spektakulärer Handball. Doch der ist riskant: Die schnellen Magdeburger haben bei Kollisionen mit größeren und schwereren Abwehrspielern eher das Nachsehen.

Dieser Umstand ist Wiegert bewusst, die Verletzung von Kristjansson (1,91 Meter) schärfte seinen Beschützerinstinkt. Der Reflexion über seine eigene Spielphilosophie schloss er eine Kritik an der Linie des Schiedsrichtergespanns an: "Wenn man die WM in Ägypten gesehen hat und das, was man jetzt hier sieht, da hat man manchmal als Laie oder Handball-Fan das Gefühl, das sind zwei unterschiedliche Sportarten."

Bei der Weltmeisterschaft waren Abwehrspieler konsequent mit Zwei-Minuten-Strafen bedacht worden, wenn sie einen Angreifer von der Seite attackierten - Situationen, in denen sich die schnellen Magdeburger in der Offensive oft wiederfinden. In der Bundesliga und auch bei internationalen Klub-Wettbewerben ist die Regelauslegung dagegen weniger streng. Wiegert appellierte deswegen: "Wir tun gut daran, in der Bundesliga auch unsere Spieler zu schützen." Aufrufe wie dieser sind auch in anderen Sportarten zur Genüge bekannt, wenn es darum geht, Spieler mit besonderen, künstlerischen Fähigkeiten zu schützen.

Wiegerts Beitrag war gefärbt vom Schock, doch er könnte einen Denkanstoß geben, denn die Diskrepanz zwischen der Regelauslegung bei Welt- und Europameisterschaften und dem alltäglichen Spielbetrieb ist immer wieder Diskussionsthema. Auch wenn Wiegert seine Aussagen - im Bewusstsein seiner Emotionalität ("ich muss aufpassen, was ich jetzt sage") - etwas relativierte. Dass er sich über den Sieg nicht freuen könne, daran sei "kein Schiedsrichter Schuld, kein Spieler der Füchse Berlin, das gehört scheinbar zu unserer Sportart dazu. Ich möchte den vollen Fokus auf Gisli Kristjansson legen und ihn maximal unterstützen".

Der Isländer wurde nach der ersten Behandlung in der Kabine von Sanitätern ins Krankenhaus gebracht. Die Bördelandhalle war da schon wieder still.

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