Süddeutsche Zeitung

Handball-Nationalmannschaft:Der Nagelsmann-Effekt

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Von Jörg Marwedel, Hamburg

Es hat eine Weile gedauert, bis auf dem Tisch vor ihm bei einem Pressegespräch "Christian Prokop, Bundestrainer" stand. Fünf Monate ist es her, seit er von Bob Hanning, dem Vizepräsidenten des Deutschen Handballbundes (DHB), Bob Kandidaten für die Nachfolge des an den Abschied denkenden Dagur Sigurdsson auserkoren wurde. Prokops Klub, der SC DHfK Leipzig, hat sich lange gegen den Verlust des Aufstiegstrainers aus dem Jahr 2015 gewehrt. Erst, nachdem das Leipziger Team zuletzt wieder "sehr gut unterwegs" war", wie Prokop das nennt - sieben Punkten aus den jüngsten vier Spielen und Tabellenplatz sechs -, haben sich die Klubverantwortlichen dazu durchgerungen, ihn schon für die Länderspiele gegen Schweden am Samstag in Göteborg und am Sonntag in Hamburg freizugeben, obwohl sein Vertrag offiziell erst am 1. Juli beginnt.

Mit "großem Respekt" gehe er an die neue Aufgabe heran, sagte der gebürtige Köthener am Mittwoch in Hamburg. Aber er habe sich auf diesen Tag, an dem er die ersten Stunden im Kreise des Nationalteams verbringt, auch sehr gefreut. Der Mann sieht mit seinen wuscheligen kurzen Haaren und seinem Zweitagebart jünger aus als jene 38 Jahre, die er alt ist. Manche haben ihn schon zum Handball-Gegenstück des begabten Fußballtrainers Julian Nagelsmann, 29, aus Hoffenheim erhoben. "Nett", findet Christian Prokop solche Komplimente. Dass das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, verrät wohl diese Aussage: Trotz seines erfolgreichen Vorgängers Sigurdsson (Europameister und Olympia-Bronze 2016) will er "eine eigene Philosophie" einbringen - das habe jeder Trainer.

Attraktiv und aggressiv - so stellt er sich seine künftige Mannschaft vor

In der Tat hält ihn Hanning für jemanden, der "hungrig" ist und eine "klare Strategie" verfolgt. Dass Prokop noch keine internationale Erfahrung besitzt, stört den Hauptverantwortlichen für Leistungssport im DHB nicht. Andere Qualitäten des Sigurdsson-Nachfolgers seien ihm wichtiger, hatte Hanning stets erläutert.

Prokops Philosophie - es ist eines seiner Lieblingswörter bei seiner Vorstellung - umschreibt er so: "Attraktiven, emotionalen Handball mit einer aggressiven Verteidigung." Er halte sich für einen "modernen" Trainer, sagt er noch, und er hoffe, er sei "variantenreich". Eine "sture Art" sei jedenfalls nicht die beste Variante. Aber Disziplin und Teamgeist seien die wichtigsten Elemente seines Arbeitens.

Prokop hat in den vergangenen Nächten nicht besonders gut geschlafen, räumte er ein, unter anderem, weil er viele Handball-Videos studierte. Am Mittwoch hat er den Nationalspielern eine Kostprobe seiner Überlegungen an die Hand gegeben: Am Mittag auf einer ersten taktischen Besprechung, wo er seine "Philosophie" erläuterte; am Nachmittag mit der ersten Übungsstunde, bei der Passqualität, Entscheidungsfindung und weitere taktische Inhalte auf dem Programm standen. Und am Abend sollte eine Veranstaltung zum besseren Kennenlernen folgen. Er hoffe sehr, dass seine Überzeugungen schnell verstanden werden, sagte der neue Bundestrainer.

Allerdings muss er seinen Amtsantritt ohne Profis der Branchenführer THW Kiel und Rhein Neckar Löwen abspulen. Ihnen wurde freigegeben, weil sie kommende Woche in der Champions League direkt aufeinandertreffen - da wäre eine Reise mit zwei Länderspielen unmittelbar vorher extrem belastend gewesen. Auf diese Weise zeigte Prokop schon mal, dass er zu einer guten Zusammenarbeit mit den Klubs bereit ist. "Ein Schulterschluss" mit den Vereinen sei ganz wichtig, führte er aus. Und weil auch der Wetzlarer Jannik Kohlbacher mit Grippe ausfällt, hat Prokop gleich mal einen aus dem "Riesenpool qualitativer Spieler" nachnominiert: Moritz Preuss, 22, vom Bergischen HC, dem er ein "aggressives Spiel auf der Halbposition und eine gute Entwicklung im Angriff" zuschreibt.

Die Duelle mit Schweden hält Christian Prokop für "sehr aussagekräftig". Es sind die Generalproben für die EM-Qualifikationsspiele gegen Slowenien Anfang Mai. Da wird es erste Hinweise geben, wie viele Qualitäten des alten Bundestrainers der neue erhalten kann. Prokop möchte die "Siegermentalität", die Sigurdsson dem Team vermittelt hat, beibehalten, auch das Image der "Bad Boys" als Mannschaft, die emotional spielt und auch mal "hart zupackt". Das wichtigste sei jedenfalls der Teamgeist. "So soll es bleiben", sagt Prokop. Auch das könnte eine Parallele zu Vorgänger Sigurdsson sein. Es gibt es wohl eine Menge, was die beiden verbinden.

Wie Sigurdsson, der das DHB-Team 2014 an einem Tiefpunkt übernahm, hat auch Christian Prokop bewiesen, dass er einen zunächst belächelten Aufsteiger wie Leipzig mit seinen Methoden auf Augenhöhe mit den besten Teams bringen kann. Und so hat er ein Ziel genannt, dass ganz im Sinne des nach Japan abgewanderten Sigurdsson sein dürfte: weiter erfolgreich spielen und sich in der Weltspitze etablieren.

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SZ vom 16.03.2017
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