Süddeutsche Zeitung

Handball:Finale mit 426 Tagen Verspätung

Lesezeit: 2 min

Beim Final-Four in Hamburg spielen die Handballer - mit erheblicher Verzögerung - den Pokalsieger 2020 aus. Für manche Spieler ist es eine kuriose Konstellation.

Von Carsten Scheele

Der Gag mit dem Trikot von Timo Kastening liegt auf der Hand, für wen spielt er nun im Halbfinale um den deutschen Handball-Pokal? Für die MT Melsungen, seinen aktuellen Klub, bei dem er seit Sommer 2020 unter Vertrag steht? Oder aber für den TSV Hannover-Burgdorf, mit dem Kastening das Final-Four erreicht hat und auf dem Weg Favoriten wie die SG Flensburg-Handewitt und die Rhein-Neckar Löwen geschlagen hat?

Melsungens Geschäftsführer Axel Geerken berichtet von den "tollsten Ideen", ein Gerücht besagt, die Hannoveraner würden ein Trikot mit Kastenings Namen und der alten Rückennummer beflocken lassen und in der Melsunger Kabine deponieren - in der Hoffnung, dass Kastening aus alter Verbundenheit zugreift. Da sei nix dran, versicherte Hannovers Geschäftsführer Sven-Sören Christophersen, man könne aber "improvisieren, wenn der Wunsch von Seiten der Melsunger besteht". Gelächter bei allen Beteiligten in der virtuellen Pressekonferenz.

Mit solchen nicht ganz ernst gemeinten Fragen müssen sich die Handballer aktuell herumschlagen. Denn der DHB-Pokalsieger 2020, der am Donnerstag und Freitag in Hamburg gekürt wird, sollte ja eigentlich bereits seit April 2020 feststehen. Dann kam die Pandemie, das Final-Four wurde mehrmals verlegt: erst in den Februar 2021, nun in den Juni. Das Finale am Freitag wird exakt 426 Tage nach dem ursprünglichen Termin ausgetragen. "Die Sehnsucht hat sich über die Monate ganz schön hingezogen", sagt Lemgos Trainer, der ehemalige Nationalspieler Florian Kehrmann. Der TBV Lemgo-Lippe trifft im ersten Halbfinale am Donnerstag auf den Rekordpokalsieger THW Kiel (17 Uhr/ZDF); anschließend kommt es zum zweiten Duell zwischen Melsungen und Hannover (19.30 Uhr/Sky). 2000 Zuschauer dürfen in die Halle, es könnte also so etwas wie Stimmung aufkommen in der Hamburger Arena.

Beim Saisonabbruch 2020 war Hannover überraschend Bundesliga-Vierter - jetzt reist der Klub als Zwölfter an

Für Kiel wäre der Pokal der nächste nationale Titel in der titelreichen jüngeren Vergangenheit, für die anderen drei Klubs wäre es ein richtiger Coup. Bei Lemgo liegt der letzte Titel, der Sieg im EHF-Pokal 2010, bereits elf Jahre zurück. Melsungen und Hannover sind in ihrer Historie gar noch titellos. "Es war ein sehr, sehr merkwürdiges Jahr", sagt Hannovers Nationalspieler Fabian Böhm, der Pokal sei das "absolute Saisonhighlight" - ja, auch wenn es sich um das Finale aus dem Vorjahr handelt.

Seine Mannschaft hat seitdem einen enormen Umbruch erlebt. Im Frühjahr 2020 spielte Hannover-Burgdorf eine herausragende Saison, wurde bis zum Abbruch auf Rang vier geführt - der größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Die Corona-Spielzeit lief dann konträr, statt als Bundesliga-Vierter mit viel Selbstvertrauen fährt man nun als Tabellenzwölfter nach Hamburg. Böhm erinnert an die Spieler, die geholfen haben, das Final-Four zu erreichen, dann aber den Klub verlassen haben, an Kastening, aber auch an Mait Petrail oder Morton Olsen, der Hannover im Viertelfinale gegen die Rhein-Neckar Löwen erst nach Hamburg geworfen hatte: mit einem wilden Stemmwurf, zwei Sekunden vor Schluss, zack, in den Winkel.

Olsen ist mittlerweile weit weg. Er spielt in seiner Heimat, bei Gudme Oure Gudbjerg in Dänemark. Er kann aus der Ferne zugucken, ob seine alte Mannschaft einen Pokal holt, der dann ein bisschen auch ihm gehört.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5310152
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.