Süddeutsche Zeitung

Dänemark bei der Handball-EM:Weltmeister zum Einschlafen

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Von Carsten Scheele, Malmö/München

Das Schicksal der Dänen entscheidet sich in Malmö, unweit ihrer eigenen Hauptstadt Kopenhagen - und zwar schon vor Anpfiff der Partie am Mittwochabend gegen Russland. Zwei Stunden zuvor spielt Island gegen Ungarn, gleicher Ort, gleiche Halle. Gewinnt Ungarn, brauchen die Dänen praktisch gar nicht mehr anzutreten. Dann sind sie raus bei der EM, nach der Vorrunde, als amtierender Weltmeister und Olympiasieger. Nach dem Fiasko der Franzosen wäre es der nächste übergroße Favoritenflop des Turniers.

Die Dänen werden sich natürlich wie gewohnt auf ihr Spiel vorbereiten, mindestens ein Auge aber auf die Partie der Ungarn richten. Nur, wenn das bereits für die Hauptrunde qualifizierte Island gewinnt, hat das Team von Nationalcoach Nicolaj Jacobsen noch die Chance, mit einem Sieg gegen Russland das schlimmste Szenario abzuwenden. Es mag ein unwürdiger Akt sein, dass der Weltmeister und Olympiasieger schon am Ende der Vorrunde einer EM auf fremde Hilfe angewiesen ist. Doch die Handballnation Dänemark hat Probleme, ihr eigenes Team wiederzuerkennen.

Was ist los mit den Dänen, die vor zwölf Monaten bei der gemeinsam mit Deutschland ausgetragenen Heim-WM so maschinenhaft durchs Turnier gerattert sind und absolut verdient Weltmeister wurden?

"Die Leute haben große Erwartungen, wir aber auch"

Ganz leicht fällt die Erklärung nicht. Im Grunde kann Trainer Jacobsen auf dieselben Spieler bauen, die zwar alle ein Jahr älter geworden sind, aber das spielt im Handball normalerweise keine große Rolle. Zwei Spiele nacheinander sind den Dänen nun missraten, erst gegen den WM-11. Island (30:31), nun gegen den WM-10. Ungarn (24:24). Beide sind gute Mannschaften, aber eigentlich keine Teams, die den Dänen gefährlich werden sollten. Die können sich ja normalerweise, wenn es eng wird, auf Mikkel Hansen verlassen, den WM-Schützenkönig und zuletzt besten Handballer der Welt, der die Bälle bei der Weltmeisterschaft in allen entscheidenden Situationen wehenden Haares ins Tor gewuchtet hatte, nervenfrei und unerbittlich. 2019 konnte den Dänen nichts passieren, Hansen hätte sie aus allem rausgeboxt. Jetzt hat sich etwas verändert.

Auch diesmal bekam Hansen den Ball, nach einem komplizierten Spiel gegen Ungarn, in dem die Dänen 57 Minuten lang zurückgelegen haben, sich wunderten über den clever spielenden Gegner, der früh merkte, dass in diesem Spiel etwas geht. Die Dänen vergaben viele freie Würfe und hatten Probleme mit der offensiven Deckung der Ungarn, erarbeiteten sich aber beim Stand von 24:24 das Recht des letzten Angriffs. 15 Sekunden vor Schluss - ein Mikkel-Hansen-Moment. Die Halle in Malmö war wegen der geografischen Nähe zur Heimat fest in dänischer Hand, die Fans machte sich bereit zum Jubeln - doch Hansen verwarf. Ein Aufsetzer, schlecht platziert, keine Gefahr für den ungarischen Torwart Roland Mikler, der mit dem rechten Unterschenkel parierte. Hansen verwarf nicht nur den letzten Ball, er hatte bei acht Versuchen nur drei Tore erzielt - für ihn eine erschreckende Quote.

"Die Leute haben große Erwartungen, wir aber auch", versuchte sich Torwart Jannick Green in einer Erklärung für die wackligen EM-Auftritte. Die Mannschaft habe versucht, die Niederlage gegen Island aus den Köpfen zu bekommen. Mit jedem ungarischen Tor sei das aber schwieriger geworden, am Ende hätte sein Team sogar noch Glück gehabt - weil die Ungarn über das ganze Spiel hinweg die bessere Mannschaft gewesen seien: "Das ist enttäuschend, es steckt so viel mehr ins uns", sagte Green. Auffällig war, wie die Ungarn von Minute zu Minute den Respekt verloren. "Hätte mir vor dem Spiel jemand gesagt, dass wir ein Unentschieden gegen den Weltmeister schaffen können, hätte ich zugestimmt", sagte Rückraumspieler Zsolt Balogh, "jetzt bin ich enttäuscht. Wir hätten gewinnen können."

Immerhin: Teile des Teams treten noch mit der Attitüde eines Weltmeisters auf. "Wir spielen so langsam, dass man fast einschläft", kritisierte Rückraumspieler Mads Mensah, "so gewinnt man keine Handballspiele". Dass sein Team auf fremde Hilfe hoffen muss, geht auch Trainer Jacobsen gewaltig gegen den Strich, doch was soll er machen? Zerknirscht gesteht er: "Wir müssen auf unsere isländischen Freunde hoffen."

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SZ vom 15.01.2020
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