Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Varane beendet Frankreichs Führungsspieler-Debatte

Lesezeit: 4 min

Von Claudio Catuogno, Nischni Nowgorod

Der Auszubildende Mbappé, 19, hatte einen Kopfball viel zu hastig übers Tor gesetzt, der Auszubildende Umtiti, 24, war unter einem Ball durchgesprungen, und nicht zu vergessen den Auszubildenden Hernandez, 22: Der hatte sich nach einem taktischen Foul eine frühe gelbe Karte eingehandelt. Würde das wohl gut gehen für die Franzosen in diesem WM-Viertelfinale gegen Uruguay?

Es war der Nationaltrainer Didier Deschamps selbst gewesen, der bei diesem zweitjüngsten Team im Turnier (nach Nigeria) die nötige Reife in Zweifel gezogen hatte. "Die Hälfte meiner Spieler hat noch keine WM gespielt. Diese Erfahrung fehlt uns, darin sehe ich ein Problem", hatte er immer wieder in abgewandelter Form betont. Er sei in Russland mit einer Gruppe "Lehrlinge" unterwegs - wie könne man da den Titel erwarten?

Nun, das Vordiplom haben die Franzosen schon mal bestanden mit ihrem 2:0 (1:0) am Freitag in Nischni Nowgorod gegen Uruguay. Am Dienstag in Sankt Petersburg wird über die Zulassung zur Abschlussprüfung befunden, die für kommenden Sonntag in Moskau geplant ist. Im Achtelfinale gegen Argentinien, sagte Deschamps am Freitagabend, habe seine Mannschaft bereits "Großes geleistet", gegen Uruguay habe sie "das Niveau noch einmal gesteigert. Uns fehlt Erfahrung, aber wir haben den Willen."

Großen Anteil am Sieg gegen Uruguay hat einer, der mit 25 Jahren zwar auch noch erstaunlich jung ist, aber gewiss kein Lehrling mehr. Der Innenverteidiger Raphaël Varane, 25, von Real Madrid war für dieses Spiel das, was man einen Türöffner nennt: Nach einem Freistoß von Antoine Griezmann setzte er einen brillanten Kopfball genau in den Winkel (40.). Es ist unter anderem diese Präzision, der Varane im Team den Spitznamen "Meister Proper" verdankt.

Varane steht im Zentrum einer Führungsspieler-Debatte

Varane ist eine der Instanzen in dieser französischen Elf, Vize-Kapitän hinter dem Torwart Hugo Lloris, und ebenso ist er der Chef in der Abwehrreihe, in der er zusammen mit Samuel Umtiti vom FC Barcelona die Innenverteidigung bildet. Aber trotzdem hat er die Leute in der Heimat nie so richtig von sich überzeugen können. Varane steht im Zentrum einer Art Führungsspieler-Debatte, wie sie auch in Deutschland von diversen Gurus und Ex-Gurus am Köcheln gehalten wird, denen heute Typen fehlen, wie sie selbst früher welche waren. Im Quartier der Franzosen in Istra jedenfalls hat sich Varane schon wieder verteidigen müssen ("Meine Mentalität gefällt nicht allen, es gibt eben verschiedene Leader-Typen") - aber er hat diesbezüglich immerhin ein nationales Heiligtum als Vorbild anführen können, das ebenfalls nie zu den Lauten und Vorlauten gezählt hat: Zinédine Zidane. "Der muss auch nicht erst das Licht anmachen, ehe man seine Botschaften versteht", sagte Varane, der das wissen muss. Zidane war bis zu diesem Sommer sein Trainer bei Real. Und ist nun sein Fürsprecher: "Diesmal", hatte Zidane verkündet, werde Varane "all sein Talent zeigen".

Und gegen Uruguay zeigte er nicht nur sein Kopfballtalent. Mit vier glatten Siegen und 7:1 Toren waren die Uruguayer bis in dieses Viertelfinale vorgestoßen, nun brachten sie kaum einmal einen seriösen Angriff zustande. Was allerdings auch daran lag, dass Edinson Cavani mit Wadenödem nur auf der Bank sitzen konnte. Für den 31-jährigen Angreifer von Paris Saint-Germain rutschte Christian Stuani in die Startelf. "Uns hat die Torgefahr gefehlt", gestand Kapitän Diego Godín.

Didier Deschamps hatte ebenfalls einmal wechseln müssen: Corentin Tolisso vom FC Bayern ersetzte den gelb-gesperrten Blaise Matuidi. Und schon bald nahm diese Partie einen Verlauf, der weitere Absenzen erwarten ließ. Vor allem die Uruguayer gingen ohne Rücksicht auf Körperteile jedweder Art in die Zweikämpfe. Gimenez stieg Giroud auf die Achillesferse (2.); Stuani schlug Hernandez das Standbein weg (10.), Suárez räumte Pavard mit einem Check aus dem Weg (23.); Bentancur war gar nicht nett zu Tolissos Schienbein (38.).

Das 2:0 hätte es gar nicht geben dürfen - Uruguays Muslera hilft mit

In der zweiten Halbzeit wuchs sich die Anspannung zu einem minutenlangen Gerangel und Geschubse aus, an deren Ende Kylian Mbappé eine gelbe Karte unter der Nase hatte - für Schauspielerei (68.).

Viele Fouls, viele Freistöße - spätestens nach Varanes Führungstor nach Griezmann-Freistoß hatten die Franzosen davon auch profitiert. "Mein Tor war die reine Freude", sagte Varane, "jetzt tun wir alles dafür, um den Pokal zu holen." Wenige Minuten nach seinem Treffer gab es auf der Gegenseite eine ähnliche Situation: Diesmal kam Martin Cáceres an den Ball, aber Lloris konnte spektakulär abwehren.

Das 2:0 wiederum hätte es gar nicht geben dürfen, Griezmann zog einfach mal ab, der uruguayische Torwart Fernando Muslera bekam den Ball gegen die Hände - doch von dort flog er in einem hinterlistigen Bogen ins eigene Netz. Griezmann blieb danach reglos stehen, Jubel gegen Uruguay ist bei ihm nicht vorgesehen, er ist bekanntlich der größte Uruguay-Fan jenseits von Uruguay - und der Abwehrspieler Godín ist der Pate seiner Tochter. Doch obwohl das nun wirklich eine Szene zum Heulen war aus Sicht der Urus, lief Godín nun durch den Strafraum und klatschte Beifall für Griezmann.

Raphaël Varane hat derlei Rücksichtnahmen nicht nötig. Für ihn war dieses Spiel in erster Linie eine Wiedergutmachung. Er hat auch das letzte Mal schon mitgespielt, als die Franzosen in einem WM-Viertelfinale standen. Auch damals erzielte ein Verteidiger das entscheidende Tor per Kopf, der Deutsche Mats Hummels, 2014 in Rio. Varane war derjenige, der Hummels aus den Augen verloren hatte, zumindest wurde ihm das vorgeworfen. Nun sagte Deschamps in Nischni Nowgorod: "Auch andere wurden damals von Hummels' Kopf geschlagen, er war nicht wirklich schuld. Aber ich freue mich für ihn, das stimmt, und das habe ich ihm nach dem Spiel auch gesagt. Auch ich habe zu der Zeit sehr gelitten." Les Bleus trop verts, die Blauen zu grün, auch damals hatte es das schon geheißen. Aber diesmal muss man davon ausgehen, dass sich gezieltes Understatement hinter dem Spruch von den Lehrlingen verbirgt.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2018
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