Süddeutsche Zeitung

Vor dem Duell mit England:Die neue Freiheit der Mücke

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Die WM könnte sein Moment werden, glaubt Ousmane Dembélé. Der einstige Problemfall im Team Frankreichs hat zu neuem Selbstvertrauen gefunden - und nur noch Angst vor Katzen.

Von Javier Cáceres, al-Rayyan

Das Leben auf den Straßen Katars ist überschaubar. Hitze und Stadtplanung sind eher nicht dazu angetan, beispielsweise Menschen wirtliche Bedingungen zu bieten. Als große Ausnahme sieht man: streunende Katzen. Sie sind omnipräsent, eine Sterilisierungskampagne der Regierung soll fehlgeschlagen sein. Bisher war man davon ausgegangen, dass Katzen sich vor Moskitos fürchten müssen. In Katar aber war zu lernen, dass es zumindest in einem Fall umgekehrt ist: Ousmane Dembélé, 25, der seit langer Zeit "le mosquito" genannt wird, leidet unter Ailurophobie, wie sein Stürmerkollege Randal Kolo Muani (Eintracht Frankfurt) enthüllte. "Er hat Angst vor Katzen", sagte Kolo Muani, "und das bringt uns alle zum Lachen."

Den Jux, den sich die Delegationsmitglieder der Équipe de France machen, hat nichts mit einem Mangel an Empathie zu tun. Im Gegenteil. Sie mögen Dembélé. Allen voran Megastürmer Kylian Mbappé, der ihn einen Freund nennt. Sie wissen, was sie an dem Mann haben, der deshalb Moskito genannt wird, weil er an guten Tagen schneller über den Platz fliegt als Chico Marx einst mit seinen Fingern über die Pianotastatur. "Ousmane hat ein großes Spielvolumen", sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps kürzlich - beseelt davon, dass das einstige Sorgenkind der Nation es dieser Tage für Frankreich tatsächlich abruft.

Bei seinem Weggang aus Dortmund erwarb er sich ein Messie-Image

Zur WM reiste er mit dem Etikett "Reservist" an. Doch eine Verletzungswelle spülte ihn in die erste Elf. Der frühere Dortmunder stand bei der WM immer in der Startformation - außer beim letzten Gruppenspiel gegen Tunesien, in dem es für die vorab qualifizierten Franzosen um nahezu nichts mehr ging. Am Freitag gab es keinen begründeten Zweifel daran, dass "Dembouz" auch am Samstag einen Startelfplatz haben wird, für das Viertelfinale ist er gesetzt. Obwohl es gegen Großkatzen geht. Für den Gegner England wird gern das Synonym "Three Lions" verwendet - und Löwen gehören bekanntlich zu den Feliden. Angst? Iwo. "Ich will ein Protagonist dieser WM sein", hat Dembélé in Katar gesagt, wo er selbstbewusst auftritt wie selten zuvor.

Er habe "drei, vier delikate Spielzeiten" in Barcelona hinter sich, und das war noch untertrieben. Seine Zeit beim FC Barcelona - seit Kindheitstagen sein absoluter Lieblingsklub - war von einer Reihe von Belastungen geprägt, im Grunde seit seinem Wechsel aus Dortmund im Jahr 2017. Die fast 150 Millionen Euro große Ablösesumme, die Barcelona an Borussia Dortmund zahlte, nagte an ihm; zudem haftete ihm ein Messie-Image an, weil er sein Haus in Dortmund völlig verdreckt an den Vermieter übergeben hatte, der Fall landete in der Zeitung und vor Gericht. Zudem reihte er - als Besserverdiener bei Barça - eine Verletzung an die nächste; der Klub befeuerte Gerüchte, dass das auch mit Fragen der Lebenshygiene zu tun habe. In seinem Umfeld wird schon länger geklagt, dass durch mediales Mobbing ein völliges Zerrbild entstanden sei, Dembélé selbst warb nun darum, keine Fragen mehr zu seinem Way of life hören zu müssen. Er habe sich geändert.

Die Wende kam Ende 2019. Dembélé reiste nach Katar und unterzog sich in der Aspetar-Klinik einem Reathletisierungs- und Präventionsprogramm, seither arbeitet er vor und nach den Spielen intensiv an seinem Körper. "Ich bin jetzt seit anderthalb Jahren verletzungsfrei", sagte Dembélé. Und: "Ich bin älter und reifer geworden - auf und abseits des Platzes." Und es begab sich, dass Ende 2021 ein Trainer kam, der sich der Aufgabe verschrieben hat, die Grenzen Dembélés auszuloten: Xavi Hernández.

Als Xavi Trainer in Barcelona wurde, hielt er Dembélés Weiterbeschäftigung für entscheidend

"Es ist nicht einfach, beim FC Barcelona zu spielen", berichtet ein Mitglied des Trainerstabes der Katalanen. Xavi habe "ihm Vertrauen gegeben und alles dafür getan, dass er selbst an sich glaubt. Sein Potenzial ist enorm". Der Klub wollte Dembélé eigentlich über Jahre hinweg loswerden; als sein Vertrag im Sommer auslief, standen die Zeichen auf Trennung. Für Xavi war die Weiterbeschäftigung Dembélés dagegen so entscheidend, dass er seinen Urlaub unterbrach, um dafür zu sorgen, dass der Manager des Klubs, Mateu Alemany, die Verhandlungen mit Dembélé in seinem Sinne führt.

Zwar wird im Camp Nou zu Barcelona noch immer mit einer gewissen Skepsis auf Dembélé geschaut, weil er ein Spieler ist, der auf dem Platz mitunter exzentrische Entscheidungen trifft. In den Augen Xavis aber ist er unverzichtbar. Dembélé hat alle Spiele der laufenden Saison bestritten (20), fünf Tore erzielt und sieben vorbereitet. Und so wird in Barcelona im Zusammenhang mit Dembelé längst nicht mehr über den Messie gesprochen, sondern von Lionel Messi. Denn in den Jahren vor seinem Abschied nach Paris war es so, dass sich Messi, seinerzeit Galionsfigur der Katalanen, häufiger mit Jon Azpiazu, dem Assistenten des Ex-Trainers Ernesto Valverde, nach Wegen suchte, Dembélés Schnelligkeit für sich zu nutzen. Messi schätzte Dembélé wegen der gleichen Dinge, die Frankreichs Trainer Deschamps schwärmen lassen. "Der Coach will, dass ich das Spiel breit mache, durch Eins-gegen-eins-Situationen gefährlich werde, viel mit Antoine Griezmann rochiere", sagte Dembélé. "Er lässt mir viele Freiheiten."

So soll es auch gegen England sein. "Die WM 2022 könnte mein Moment werden", hat er vor ein paar Tagen gesagt. Könnte passieren. Vorausgesetzt, die Engländer tauschen ihren Linksverteidiger nicht noch gegen "Dave the cat" aus, die Hauskatze ihres Teamquartiers, die Verteidiger Kyle Walker so liebgewonnen hat, dass er sie nach der WM adoptieren und nach England mitnehmen möchte.

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