Süddeutsche Zeitung

Finale der Fußball-WM:Fußballrealismus auf französisch

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Es ist keine Übertreibung, von einem Zeitalter Frankreichs im Fußball zu sprechen. Mit ihrem sachlichen und erfolgsorientierten Stil sehen die Franzosen beinahe wie die neuen Deutschen aus.

Kommentar von Philipp Selldorf

Während Frankreich und Argentinien auf ein Finale zugehen, das nicht nur dem gastgebenden Emir von Katar gefällt, sondern durch seinen Glanz die ganze Welt aufmuntert, bleibt den vom Glück verlassenen Deutschen nichts anderes übrig, als im Poesiealbum ihrer WM-Geschichte zu blättern. Dort können sie sich an den Schmähungen erfreuen, die ihrer Nationalelf und deren Fußball in allen Erdteilen stets gewidmet wurden. Hin und wieder gab es Lob für attraktive Momente, 1990 in Italien, 2014 in Brasilien. Aber weit öfter ist der deutsche Fußballstil verflucht worden, als wäre er ein vorsätzliches Verbrechen am schönen Spiel.

Die Franzosen haben jedes Recht und allen Grund, stolz darauf zu sein, dass sie zum zweiten Mal hintereinander ein WM-Endspiel erreicht haben. Es ist keine Übertreibung, von einem französischen Zeitalter des Fußballs zu sprechen. Frankreich, von dem es vor ein, zwei Generationen noch hieß, es eigne sich durch das genussfreudige Wesen seiner Bewohner eher für den Boule- und Billardsport, ist im 21. Jahrhundert eine Fußballgroßmacht. Dessen Reservoir an großartigen und besonderen Spielern scheint sich ständig zu erneuern. Den Franzosen 2026 in Nordamerika den Hattrick zuzutrauen, ist keine abwegige Vision.

Es gibt diese Zyklen auf dem Hochplateau des Nationenfußballs. Brasilien zog 1994, 1998 und 2002 ins Endspiel ein. Aber keine Epoche ist mit jener deutschen Periode zu vergleichen, die in den Achtzigern eine Schreckensherrschaft darstellte. Deutsche Teams wurden nicht als Ensemble von Sportlern beschrieben, sondern als leibhaftige Maschinen, bestenfalls als altgermanische Waldkrieger. Paul Breitner war bei der WM 1982 "der Anführer der Barbaren" ( El País), den Weg ins Finale illustrierte eine italienische Zeitung mit einer Karikatur, in der die deutsche Dampfwalze den spanischen Stier, den englischen Löwen und den gallischen Hahn plattrollte.

Das Stöhnen und Seufzen der deutschen Konkurrenten gehörte zum höchsten denkbaren Lob

1986 wieder dieses Stöhnen in aller Welt, als die DFB-Elf erneut ins Finale eindringt. Le Figaro: "Die Deutschen haben ihren Realismus eingesetzt"; El Mundo: "Arbeit, harte Arbeit, alles sehr deutsch"; Corriere della Sera: "Auch diesmal zerschellt Platinis Traum an den deutschen Panzern." SZ-Korrespondent Ludger Schulze sah seine Landsleute als "Waldarbeiter, die den Platz rodeten und jeden Spieler umholzten". 2002 in Asien kehrte in einem neuen Zeitalter das alte Seufzen zurück. "Oh, verdammt. Die schon wieder", rief der Daily Star aus, und die Times klagte bewährt: "Völlers gnadenlose Armee marschiert weiter."

Herrliche Komplimente, die einem nach zuletzt zwei zeitig beendeten Turnieren das Herz erwärmen. Den Würdigungen von damals ist zu entnehmen, woran es heute im deutschen Fußball fehlt, im Pressestimmentonfall von früher: am brutalen Realismus, an teuflischer Solidität, an der Stärke von Bulldozern. Fast hat es da den Anschein, als habe der DFB-Präsident Bernd Neuendorf mit den Achtzigerjahre-Helden Rudi Völler und Karl-Heinz Rummenigge die richtigen Paten in seinen Sportexpertenrat berufen.

Bezeichnenderweise sind Hansi Flicks Spieler in Katar immer noch gegenwärtig, wenn auch bloß statistisch. Der Zahlendienst Opta listet unter dem Titel "Beteiligung an Angriffssequenzen" per Punktewertung die Spieler auf, die am meisten zu Torchancen beigetragen haben. Mit Abstand obenan stehen logischerweise Kylian Mbappé und Lionel Messi, dann folgen mit nahezu identischer Punktzahl Antoine Griezmann und Theo Hernández - und Jamal Musiala, Serge Gnabry und Joshua Kimmich. Letztere mit der halben Anzahl an Einsatzminuten.

Was folgt daraus? An Eifer und offensiver Action hat es nicht gemangelt, an Effizienz schon. An defensiver und disziplinierter Ordnung sowieso. Klagen über den Verlust der klassischen deutschen Tugenden sind daher nicht unbedingt reaktionär, sie können der Selbsterkenntnis dienen. Orientierung bietet die aktuelle Fußballweltmacht: Mit ihrem sachlichen und erfolgsorientierten Stil sehen die Franzosen beinahe wie die neuen Deutschen aus.

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