Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Belgien zerreißt das Drehbuch

Lesezeit: 3 min

Von Martin Schneider, Kasan

Die Geschichte dieses Spiels war eigentlich schon geschrieben. Brasilien, der wiedererstarkte Gigant, schaltet Belgien aus, die ewige Überraschungsmannschaft, mit diesen vielen absurd talentierten Spielern, die dann eben doch scheitert, wenn es ernst wird. Das sollte das Drehbuch dieses WM-Viertelfinals in Kasan sein, doch dann kamen Kevin De Bruyne und Thibaut Courtois und Romelu Lukaku und Roberto Martínez und zerissen den göttlichen Plan in einem furiosen Spiel einfach in der Luft.

Belgien ist nun keine Mannschaft im Konjunktiv mehr. "Belgien könnte" ist Geschichte, "Belgien kann" die Gegenwart. Wie das alles passieren konnte, das erklärten der Trainer und der beste Spieler des Abends in einem ruhigen Raum nach der Partie.

"Um Brasilien zu schlagen", sagte Trainer Martínez, "muss man daran glauben, Brasilien schlagen zu können." Das Wort "glauben", er benutzte das englische Wort "believe", betonte er mit einer Inbrunst und einem Stolz. Er wollte der Welt unbedingt mitteilen, dass die Belgier davon überzeugt waren, diesen Riesen zu Boden zu bringen. Bei jeder anderen Nationen sei es ja so, sagte Martínez, wenn man gut spiele, habe man eine Chance zu gewinnen, wenn man schlecht spiele, habe man eine Chance zu verlieren. Das gelte bei Brasilien nicht. "Wer gegen Brasilien spielt, spielt gegen fünf Weltmeister-Titel", sagte Martínez.

Romelu Lukaku, die Lok auf zwei Beinen mit der Leichtigkeit einer Libelle

Der Rekordweltmeister ist nun Geschichte bei diesem Turnier und man wusste gar nicht so genau, wen man bei Belgien herausheben sollte. Thibaut Courtois, dieser Fast-Zwei-Meter-Riese, der in der zweiten Halbzeit immer einen seiner endlosen Arme an einen Ball bekam? Eden Hazard, der mehr als einen langen Ball stoppte, als würde er ihn mit Händen fangen und unglaubliche 21 Zweikämpfe gewann? Romelu Lukaku, diese Lokomotive auf zwei Beinen, bei dem man Angst haben musste, dass er irgendwann vor lauter Kraft einfach durch das Stadion hinausrennt und der es schafft, in diese Ur-Kraft noch die Leichtigkeit einer Libelle zu mischen?

Oder doch Kevin De Bruyne, der von der Fifa zum Mann des Spiels gewählt wurde und so fragwürdig diese Auszeichnung zuweilen ist (meist gewinnt der, der das Tor geschossen hat), diesmal war sie vielleicht gar nicht so falsch. Denn in der ersten Hälfte beherrschte der Mann von Manchester City das Spiel, erfasste die Kontersituationen der Belgier am schnellsten, bewegte sich traumwandlerisch durch die Konter-Abwehr-Mechanismen der Brasilianer und schoss das Tor des Tages, indem er seinen Spann gegen den Ball peitschte und die Kugel unhaltbar und ohne jede Drehung ins Eck jagte. Als Brasiliens Nationaltrainer Tite gefragt wurde, wer der beste Belgier gewesen sei, meinte er. "Vielleicht De Bruyne ... ja, De Bruyne."

"Wir haben etwas Wunderschönes geschafft, wir sind sehr stolz", sagte der Vielgelobte später bei der Pressekonferenz, sein Kopf immer noch rot von der Anstrengung, seine Socken in Badelatschen. Ein Journalist wollte etwas über seine Rolle wissen und De Bruyne sagte: "Ich muss sicherstellen, dass das Team in den schwierigen Situationen ruhig bleibt. Ich muss dafür sorgen, dass unsere Spieler am Ball entspannen können. Manchmal sind wir noch zu hektisch." Das war insofern bemerkenswert, als dass Belgien gerade mit unglaublichem Tempo-Fußball gewonnen hatte. Aber so richtig fiel einem erst in diesem Moment auf, dass es natürlich stimmte, was er sagte. Er war die Ruhe im Tornado, derjenige, der den klugen Pass spielte und erst in dem Moment explodierte, als es nötig war. Zu seiner Rolle als Ballverteiler sagte er schlicht: "Ich tue alles, was nötig ist, um zu gewinnen."

Aber neben den Spielern war da auch noch der Trainer, Roberto Martínez. Er hatte sich dafür eine riskante Taktik ausgedacht, die er später als "großes Zocken" beschrieb. Als Schwachstelle hatten er und sein Team den Raum hinter den brasilianischen Außenverteidigern ausgemacht. Fagner und vor allem Marcelo rücken immer sehr weit nach vorne - also postierte Martínez in diesen Räumen Eden Hazard und Romelo Lukaku. Kevin De Bruyne gab er die Aufgabe, den Ball irgendwie zu diesen beiden Druckbeschleunigern zu bringen.

"Schaut auf diese Generation. Sie ist etwas Besonderes."

Martínez überließ das Verteidigen also den restlichen Spielern gegen die, wie er es sagte, "gefährlichste Mannschaft des Turniers". Eine Alles-oder-nichts-Taktik. Er hoffte, dass die Sieben hinten irgendwie gegen Neymar und Marcelo und Coutinho und Gabriel Jesus standhalten und dass vorne der Dreizack sticht. "Man braucht gegen Brasilien unbedingt einen taktischen Vorteil. Einfach nur gut spielen reicht nicht", sagte der spanische Coach der Belgier.

Nach wenigen Minuten hätte all das hinfällig sein können. Nach einer Ecke ging der Ball an den Pfosten, Thiago Silva schaute ihm mit aufgerissenem Mund hinterher. Aber das Momentum war diesmal auf der Seite von Belgien.

Später am Abend wurde Trainer Martínez noch nach einem anderen großen Spiel in der Geschichte Belgiens gefragt. Im Achtelfinale der WM 2002 spielte das Land ebenfalls gegen Brasilien und kam der Sensation nahe - Luiz Felipe Scolari, der Trainer Brasiliens, bezeichnete es damals als das schwerste Spiel auf dem Weg zum Titel. Martínez kannte die Geschichte, er lächelte, als ein Journalist ihn drauf ansprach, weil er wusste, dass er diesmal den einen Schritt mehr gegangen ist als die Generation vor ihm. "Brasilien zu schlagen, bedeutet alles für uns", sagte er. "Ich sage den Leuten zu Hause: Schaut auf diese Generation. Sie ist etwas Besonderes."

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