Süddeutsche Zeitung

Fußball-EM:Diese EM ist eine Rutschpartie

Lesezeit: 3 min

Von Thomas Hummel, Lille

Am Morgen nach der Rutschpartie regnete es über Nordfrankreich. Es hatte schon in der Nacht begonnen und hörte erst gegen Mittag auf, was nichts Gutes ahnen lässt für die restlichen Grashalme im Stade Pierre Mauroy. Es sind ohnehin nur ein paar kümmerliche Exemplare übrig auf diesem Feld, das ein Fußballplatz moderner Prägung sein soll.

"Es ist wirklich eine Schande", schimpt der Schweizer Trainer

Die Platzwarte und Spielfeldgärtner geraten bei der EM immer stärker in die Kritik. Es ist offensichtlich, dass an manchen Spielorten einiges schiefgelaufen ist bei ihrer Arbeit. Nach der Partie am Sonntag in Lille gegen Frankreich schimpfte der Schweizer Trainer Vladimir Petkovic drauflos: "Es ist wirklich eine Schande. Das hat das Spiel sehr beeinflusst." Ähnlich verdrossen klang Kollege Didier Deschamps: "Es ist trostlos. Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist. Wir sind am Ende der Gruppenphase und finden so einen Platz vor. Das ist wirklich nicht gut."

Deschamps erklärte zwar, der Rasen in Lille sei immerhin besser gewesen als der in Marseille. Was die örtlichen Angestellten freuen dürfte, für Beobachter der Partie aber ganz und gar erstaunlich war. Besser? Waren Franzosen und Schweizer doch phasenweise über den Platz geschlittert als würden sie mit Bowling-Schuhen auf Eis spielen. Vor allem die großen, schweren Jungs landeten hart, der 1,87 Meter große Baum von einem Kerl Moussa Sissoko zum Beispiel oder Schlacks Paul Pogba. Ein Richtungswechsel, schon zog es ihnen die Beine weg. "Das Spiel war gut, aber es hätte besser sein können", klagte Petkovic.

Wie soll sich ein Rasen von Highway to Hell erholen?

Martin Kallen, Geschäftsführer der Uefa und eine Art Turnierdirektor, bemängelte, der Verband sei "mit einigen der Rasen nicht zufrieden". Deschamps hatte schon nach dem 2:0 gegen Albanien in Marseille den Platz als "Desaster" bezeichnet und bestürzt registriert, dass nur einen Monat vor der EM im Stade Vélodrome ein Konzert der Gruppe AC/DC stattgefunden habe. "Als ich das sah, dachte ich, ich bin auf einem anderen Planeten." Wie soll sich ein Rasen von "Highway to Hell" erholen?

In Marseille wie auch in Lille oder im ebenfalls betroffenen Bordeaux beteuern die Betreiber, noch vor dem Turnier einen neuen Rasen verlegt zu haben. Doch die ungewohnt kalten Temperaturen und der viele Regen in Frankreich haben wohl zu einer Verlangsamung des Wachstums geführt. Für Lille und Marseille kam der Rasen von der österreichischen Firma Richter, die die etwaige Vorwürfe an die Uefa weiterreicht. Der Verband habe viel zu spät den Auftrag erteilt, zudem sei der Boden in den Stadien für einen Naturrasen keineswegs optimal.

Leise klingt die Forderung nach neuen Spielfeldern an. Bei der EM 2008 hatte ein Unwetter während einer Partie in Basel die Vegetation praktisch aus dem Stadion gespült, die Schweizer organisierten auf die Schnelle einen frischen Rollrasen, der in Kühlcontainern mit 26 Lastwagen aus den Niederlanden herantransportiert wurde. Die Aktion kostete 200 000 Euro. Auch bei der WM 2006 in Deutschland waren in mehreren Stadien während des Turniers Teile des Spielfelds neu verlegt worden.

Vorerst wollen sich die Veranstalter in Frankreich anderweitig helfen. Sie verlegen das Abschlusstraining vor den Spielen aus den Stadien heraus auf umliegende Plätze. Nach dem Aufwärmen und in der Halbzeit gehen Dutzende Helfer über die Spielfelder, treten Löcher zu und sammeln mit Eimern aufgeworfene Erde ein.

Die Zeitung Le Journal de Dimanche berichtete außerdem, im Stade Pierre Mauroy seien Abschnitte des Spielfelds grün gestrichen worden, um die vielen braunen Stellen zu tarnen. Das sei bereits vor dem ersten Spiel in Lille, Deutschland gegen Ukraine, geschehen. Es werde dabei die gleiche Technik verwendet wie bei der Markierung der Linien und auf dem Boden liegender Werbeaufdrucke. Bastian Schweinsteiger sprintete bei seinem Tor also gar nicht über Gras, sondern über grün gestrichene Erde? Von offizieller Seite wurde das bislang nicht dementiert.

Der sattgrüne Untergrund ist fester Bestandteil des milliardenschweren Fußball-Business. Als bei der WM vor zwei Jahren in Recife vor dem deutschen Spiel gegen die USA nach tagelangem Regen die halbe Stadt unter Wasser stand, fand in der Arena Pernambuco ein einwandfreies Fußballspiel statt. Beklagte die Bevölkerung seit Jahren den Mangel eines wirkungsvollen Abwassersystems, sparte die Regierung beim Einbau einer Drainage für das neue WM-Stadion keinen Real. Und in München haben sie sich vor zwei Jahren den neuesten Schrei geleistet, damit Pep Guardiolas Kurzpassspiel nicht gestört wird: einen sogenannten Hybrid-Rasen, Naturhalme versetzt mit Kunstfasern. Er soll fast eine Million Euro gekostet haben.

Adel Rami war selbst mal Gärtner - und verteidigt den Platzwart

Umso erstaunter reagierten die Spieler in Lille auf den seifigen Untergrund. "Das ist das erste Mal, dass ich so was sehe. Ich bin überrascht", sagte der Franzose Sissoko. Kollege Adel Rami indes verteidigte den Platzwart, der Abwehrspieler war vor seiner Fußball-Karriere als Gärtner in der südfranzösischen Stadt Fréjus angestellt. "Ich weiß, was das bedeutet. Der Rasen war nicht gut, aber das ist Teil des Jobs, so etwas passiert", sagte Rami.

Beendet die deutsche Nationalmannschaft ihre Gruppe C als Erster, bestreitet sie in Lille am Sonntag das Achtelfinale. Man rechnet damit, dass der Platz auch dann in sattgrüner Farbe erstrahlt, so oder so. Es sei denn, Italiener und Iren reißen in ihrem Gruppenspiel am Mittwoch auch noch die letzten Halme heraus. Letzte Meldung aus der Stadt: Am Montagnachmittag begann es wieder stark zu regnen.

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Quelle:
SZ vom 21.06.2016
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