Süddeutsche Zeitung

Frankreichs Trainer Deschamps:"DD" ist der geborene Anführer

Lesezeit: 4 min

Von Claudio Catuogno, Moskau

Man kann sich das ja mal für einen Moment vorstellen. Halbzeit im WM-Finale, Frankreich führt, aber es ist noch nichts gewonnen. Die Spieler kommen in die Kabine. Stollengeklacker, Wortfetzen und viel Adrenalin. Wer ergreift jetzt das Wort? Wer lenkt die Konzentration noch ein letztes Mal aufs Wesentliche? Wer ist der Anführer, auf den alle hören?

Kapitän der Franzosen ist der Torwart Hugo Lloris, ein hoch geschätzter Mann. Aber eher einer fürs verbindliche Einzelgespräch. Wer wäre da noch? N'Golo Kanté, die Instanz im defensiven Mittelfeld, Gefahrenantizipierer, Balleroberer? Kanté ist jenseits des Rasens so bescheiden, dass er noch nach seinem Wechsel zu Leicester City mit einem Renault Mégane durch die Gegend fuhr. Kanté also auch nicht. Und Paul Pogba, der Regisseur? Pogba ist der Laute, aber eben auch der Schrille in der Équipe de France. Spätestens, seit sie seine neue Serie auf Canal+ gesehen haben ("Pogba Mondial. La PogSérie"), in der er sein Heimkino (PogCinéma) und seinen Indoor-Bolzplatz (PP Arena) präsentiert, wissen sie, dass man von ihm auch nicht immer den richtigen Ton erwarten sollte. Im Grunde wussten sie es vorher aber auch schon.

Es wird wohl wieder "DD" sein. Wie 1998.

Wer etwas über die Autorität wissen will, mit der Didier Deschamps, 49, die französische Nationalelf durch diese WM gelotst hat, bis ins Finale am Sonntag gegen Kroatien, der muss sich die Dokumentation "Les Yeux Dans Les Bleus" ansehen, ein Blick ins Innenleben der Weltmeister von 1998. Halbzeit im Endspiel in Paris, die Franzosen führen 2:0 gegen Brasilien. Gewonnen ist noch nichts. Deschamps, der Kapitän, betritt als Erster die Kabine. Er bespricht sich kurz mit Youri Djorkaeff, dann mit Lilian Thuram. Der Trainer Aimé Jacquet versucht, ein paar beruhigende Worte zu sagen, kommt aber nicht weit. Weil man bald nur noch die schrille Stimme jenes Mannes hört, der hier der geborene Anführer ist. Die von Deschamps.

Deschamps sei Arbeiter und Perfektionist, sagen sie in Frankreich

"Wir lassen nicht nach, klar? Nicht jetzt, klar? Wir sind noch 45 Minuten vom Wahnsinn entfernt." Deschamps stützt die Fäuste auf den Boden, dehnt den Körper, geht dann zu Zinédine Zidane, der auf dem Boden liegt, tätschelt seine Wange. Dann wieder das schrille Stakkato: "Kopf oben lassen! Ein Tor noch! Noch eins!" Eine Stunde später wird Didier Deschamps den WM-Pokal in den Pariser Himmel recken.

Und jetzt will er das noch einmal tun, zwanzig Jahre danach, in Moskau. Er hat diese hochtalentierte junge Mannschaft dabei, 25 Jahre im Schnitt, "meine Lehrlinge", nennt er sie. Aber es wäre wohl vor allem sein Titel. Nur zwei Männer haben es vor ihm geschafft, als Spieler und Trainer Weltmeister zu werden, der Brasilianer Mario Zagallo und der Deutsche Franz Beckenbauer. Auch darum geht es jetzt.

Wie baut er seine Elf? Das wurde Deschamps vor dem Turnier vom Magazin France Football gefragt. Wo fängt er an? "Mit dem Torhüter", antwortete er, dahinter stand in Klammern "Rires". Lacht. Also die Nachfrage: Aimé Jacquet habe ja immer von vorne begonnen und den Rest aus der Offensive heraus entwickelt. Darauf Deschamps: "Das ist nicht wahr. Aimé hat mit mir begonnen und dann gesagt: Also, Didier, was baue ich um dich herum?"

Doch, Deschamps, dieser Mann mit der Aura eines Generals, er hat schon auch Humor. Man merkt es halt nicht immer auf den ersten Blick.

Aber dann sprach Deschamps eben doch sechs Seiten lang voller Ernst über genau dieses Thema: die stete Suche nach dem Gleichgewicht. Darüber, welche Spielverläufe er vorab antizipiert, wie er sich Plan B und Plan C zurechtlegt. Er sei Arbeiter und Perfektionist, sagen sie in Frankreich, immer vorbereitet auf alle Eventualitäten. Wenn es bei dieser WM einem Trainer gelungen ist, eine Mannschaft nach seinem Bilde zu formen, dann ihm.

Sollen doch die Belgier vom angeblichen "Anti-Fußball" schwadronieren, dem sie im Halbfinale zum Opfer gefallen seien, weil der Verteidiger Samuel Umtiti nach einem Standard den Ball ins Tor wuchtete und der Stürmer Olivier Giroud an der eigenen Eckfahne in die Zweikämpfe ging. Na und? Hatten die Experten vor dem Turnier nicht das Gegenteil befürchtet? Schön und gut, dass Deschamps die vielleicht heißeste Offensive des Planeten am Start habe mit Mbappé, Griezmann, Dembélé - aber um Weltmeister zu werden, sei man doch wohl zu grün hinter den Ohren! Und nun? Nun hat Deschamps doch alles ins Gleichgewicht gebracht. Wenig Ballbesitz, viele Chancen, getreu seinem Credo: "Ich habe nie des Spielens wegen gespielt, sondern immer, um zu gewinnen." Die Fachzeitung L'Équipe schrieb dazu vor ein paar Tagen: "Die Ästheten fluchen - aber er geht seinen Weg."

Die Spieler folgen ihm. "Er gibt dir ständig kleine Hinweise, wie du dich verbessern kannst", sagt der junge Rechtsverteidiger Benjamin Pavard vom VfB Stuttgart, "wir sind bereit, mit ihm in den Krieg zu ziehen." Und Giroud: "Er ist ein Wettkämpfer, der nichts dem Zufall überlässt. Er gibt uns die Schlüssel in die Hand, die wir brauchen." Diejenigen, die ihm nicht folgen, lässt er zu Hause. Er kann es sich leisten. Die Zeitung Libération will eine "totale Gefügigkeit" der Spieler erkannt haben, und Adrien Rabiot, ein junger Mittelfeldmann von Paris Saint-Germain, der nicht dabei ist, unterstellte Deschamps, er stelle den Kader nach dem "Grad der Folgsamkeit" zusammen. Deschamps lässt das an sich abprallen. Er entscheidet, so ist es nun mal. Und der Verbandspräsident Noël Le Graët ist sowieso der größte Deschamps-Fan von allen: "Alles, was DD anfasst, wird zu Gold", glaubt Le Graët.

Sie sind sich in Frankreich allerdings auch sicher, dass Fleiß nicht alles erklärt. Sondern dass auch Vorsehung im Spiel sein muss. Dass "DD" einer von jenen Menschen ist, die sich gar nicht dagegen wehren können, dass ihnen das Glück in den Schoß fällt. Deschamps selbst amüsiert diese Sichtweise bestenfalls: "Dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin, ist möglich. Aber Glück? Das kann einmal passieren. Ansonsten stelle ich mich den Anforderungen. Das mag ich."

Nicht so sehr mag er hingegen, auf ein paar Nebengeräusche seiner Spielerkarriere angesprochen zu werden. Als er in den Neunzigerjahren bei Juventus war, wurde das Team laut Erkenntnissen der italienischen Behörden gedopt. Und 2013 enthüllte ein Bericht des französischen Senats auffällige Blutwerte bei Frankreichs WM- Kader von 1998. Auch Deschamps wurde für den Bericht vernommen - allerdings still und leise. Nichts drang an die Öffentlichkeit, er selbst sagte auf Nachfragen auch nicht viel. Er war ja schon Nationaltrainer damals. Er hat einen Job zu erledigen, und den erledigt er jetzt auch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4053728
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.07.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.