Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in Ungarn:Rasende Weltverbesserer

Lesezeit: 3 min

Am Rande des Rennens in Budapest werben Sebastian Vettel und Lewis Hamilton für mehr Toleranz im autokratischen Ungarn. Im Gegensatz zu vielen Fußballern belassen sie es nicht bei Gesten - sie halten politische Reden.

Kommentar von Philipp Schneider

Das Parlamentsgebäude in Budapest ist ein mächtiger Protzbau aus dem 19. Jahrhundert, architektonisch angelehnt an den Palace of Westminster in London. Doch wenn es dunkel wird, dann erinnert der wuchtige Steinhaufen, der tagsüber die Donau beschattet, eher an den Wayne Tower in Batmans Heimatstadt Gotham City. Tausende Fledermäusen steigen jede Nacht aus ihren Grotten und kreisen wie die Geier über Ungarns neogotischem Parlament; man erspäht sie in der Düsternis, weil im Ungarn von Premierminister Viktor Orban eines der mächtigsten Wahrzeichen der Hauptstadt selbstredend bis zum Morgengrauen illuminiert wird. Manchmal erhalten düstere Gesetze den passenden Ort, an dem sie geistig umnachtete Abgeordnete dann abnicken können.

Vor sechs Wochen verabschiedeten die Parlamentarier in Klein-Gotham-City ein Zensurgesetz. Bücher, Filme und andere Medien, in denen eine Sexualität gezeigt wird, die von der heterosexuellen abweicht, sind in Ungarn für Kinder und Jugendliche seither verboten. Nachdem die Europäische Union als Reaktion auf das Gesetz ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet hat, weil es offenkundig Minderheiten diskriminiert, hat Orban ein Referendum angekündigt: Er möchte das Unrecht demokratisch anpinseln.

Es war richtig und wichtig, dass die Debatte um den Umgang mit dem Autokraten Orban schon die Fußball-Europameisterschaft erreicht hat; der Sport kann ohnehin niemals unpolitisch sein, weil er in der Mitte der Gesellschaft steht. Man sah: für Vielfalt und gegen Diskriminierung kniende Fußballer. Manuel Neuer mit Regenbogenbinde. Den Torschützen Leon Goretzka, der Ungarns rechtsextremen Hooligans ein Herz entgegenstreckte, das er mit den Fingern formte. Man ärgerte sich über den Europäischen Fußballverband, der eine in Regenbogenfarben erleuchtete Münchner Arena verhinderte, und erfreute sich an Dutzenden anderen Arenen und Gebäuden, die sich stattdessen bunt färbten, weil der lange Arm der Uefa sie nicht erreichte. Aber viel zu hören gab es leider nicht. Fußballer zeigen Gesten. Sie versammeln sich für ein Fotoaktion in T-Shirts mit den Buchstaben "H-U-M-A-N-R-I-G-H-T-S", von der sie anschließend peinlicherweise auch noch ein Making-of ins Netz stellen. Aber wie man Reden hält und argumentiert, das können sich die Fußballer neuerdings tatsächlich abschauen bei den Protagonisten der Formel 1.

Vettels nächste Stufe auf dem Weg zum politischen Rennfahrer

Der Rennfahrer Sebastian Vettel trägt an diesem Wochenende am Hungaroring keine Binde. Er hat sich für seinen Besuch im autoritären Ungarn stattdessen den Regenbogen auf den Helm lackieren und auch auf seine Sneakers nähen lassen. Als er auf der Pressekonferenz auf seine Botschaft angesprochen wurde, kam er pointiert zur Sache: "Ich finde es peinlich für ein Land, das in der EU ist, solche Gesetze zu haben oder darüber abzustimmen", sagte Vettel mit Blick auf Orbans Referendum. Er könne nicht nachvollziehen, warum es den Ungarn "so schwerfällt, zu verstehen, warum jeder frei sein sollte, zu tun, was er will".

Vettel durchlebt derzeit die nächste Evolutionsstufe auf seinem Weg zum politischen Rennfahrer. Vieles von dem, was er anstößt, sorgt mancherorts für Belustigung. Insbesondere den ökologisch bewegten Vettel, der nach dem Rennen in Silverstone Plastikflaschen auf der Tribüne einsammelt, der sich für Elektromobilität starkmacht und ausplaudert, dass er die Grünen wählt, halten viele für eine lebendige Text-Bild-Schere. Weil ihnen nicht eingehen möchte, dass einer dem Beruf eines Formel-1-Piloten nachgehen und sich trotzdem als dreifacher Familienvater Gedanken über Nachhaltigkeit machen kann, die er dann auslebt, sobald er dem Rennwagen entstiegen ist. Jedem Airbus-Piloten ließe sich derselbe Vorwurf machen, nur geschieht das nicht. Vettels Einsatz für Toleranz dagegen stößt nur bei denen mit den ganz kalten Herzen auf Widerstand.

Dass sich die Formel 1 neuerdings zu einer Plattform für rasende Weltverbesserer entwickelt hat, das ist unbestritten das Verdienst von Lewis Hamilton. Er war es, der den auf Gewinnmaximierung ausgelegten Apparat solang politisch vor sich hertrieb, dass er sich vom einarmigen Banditen verwandelte in einen Zirkus, der erstmals in 70 Jahren Geschichte eine politische Position bezieht, die, wie die Anti-Rassismus-Kampagne, vordergründig der Menschheit dient, weniger dem Einkommen der Teams. In Bahrain rief er dazu auf, die Verletzung der Menschenrechte in dem Königreich nicht länger zu ignorieren. Seinen Besuch im Orbanland flankierte Hamilton nun mit einer Botschaft an die 23 Millionen Menschen, die ihm in den sozialen Netzwerken folgen. "An alle in diesem wunderschönen Land Ungarn", schrieb er: "Ich fordere die ungarische Bevölkerung auf, beim bevorstehenden Referendum abzustimmen, um die Rechte der LGBTQ+-Community zu schützen. Sie brauchen unsere Unterstützung mehr denn je." Und außerdem: "Love will always win."

Eine ziemlich zeitgemäße Botschaft vom berühmtesten Repräsentanten eines Sports, dem ja oft vorgeworfen wird, er sei aus der Zeit gefallen.

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