Süddeutsche Zeitung

FC Schalke 04:Zeit gewinnen für den Trainer

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Der FC Schalke 04 verliert zu Hause gegen Hoffenheim mit 0:3, eigentlich ein weiteres Argument gegen den glücklosen Coach Frank Kramer. Dennoch setzen sich Verantwortliche für ihn ein - zumindest jetzt noch.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Normalerweise schickt André Breitenreiter im Fall eines gegnerischen Eckstoßes ausnahmslos die gesamte Besatzung in die Verteidigung. "Warum auf einen Mann verzichten?", fragte der Trainer der TSG Hoffenheim am Freitagabend rhetorisch in die kleine Gesprächsrunde: Ein Eckstoß für den Gegner bedeute, dass man ein Gegentor verhindern müsse, ein Gegenangriff mit eigenem Treffer gelinge sowieso bloß in einem von hundert Fällen, und deshalb verzichte er darauf, für den eventuellen Konter vorne einen Stürmer zu postieren - normalerweise.

Am Freitagabend um Viertel nach neun in Gelsenkirchen hat Breitenreiter die Norm außer Acht gelassen. Er beorderte Angreifer Georginio Rutter an die Mittellinie, während sich Schalke 04 fast vollständig zur Ecke im und am Hoffenheimer Strafraum versammelte, und prompt rannte dann der französische Stürmer seinem einsam zurückgelassenen Gegenspieler Cedric Brunner davon, nachdem er von Torwart Oliver Baumann den Ball erhalten hatte. Kurz darauf vollendete Munas Dabbur mit dem 2:0 für die TSG den Ausnahmefall eins von 100. "Da haben wir Schalke überrascht", stellte Breitenreiter mit süffisantem Unterton fest.

Als am Wochenende die Frage der Fragen beraten wurde - zum Verbleib des Cheftrainers Frank Kramer -, sollte auch dieser Moment der Überraschung Thema gewesen sein - im Spiel gegen die TSG entschied er über Sieg und Niederlage. Dabburs 2:0 kurz vor dem Pausenpfiff brachte den Schock, den die Schalker nicht mehr verkrafteten, es war der Anfang vom Ende, das mit einer 0:3-Niederlage noch gnädig ausfiel. Kramer war von seinem Kollegen ausgecoacht worden. "Das darf nicht passieren", fiel Schalkes Coach zur besagten Szene ein, und damit hatte er vollkommen recht: Es durfte nicht passieren, dass allein Brunner abgestellt war, um den rasend schnellen Rutter zu stoppen.

Dass Schalkes Manager Rouven Schröder später darauf bestand, der Fehler habe bei Brunner gelegen ("da muss man Foul spielen"), war nicht zuletzt ein Manöver zur Verteidigung des Trainers, dessen Reputation erneut gelitten hat. Das große Rasenbild nach dem Abpfiff zeugte schon von fortgeschrittener Abschiedsstimmung. Kramer fand keinen Platz mehr in der Mitte der Mannschaft und seiner Trainer-Kollegen, selbst das knollennasige Maskottchen Erwin verzichtete auf eine solidarische Trostgeste, weil sie nicht ins emotionale Geschehen passte. Der obligatorische Einheits-Beschwörungskreis mit Spielern und Betreuern fiel ersatzlos flach, während das Publikum stillschweigend abzog.

Sportchef Schröder führte Abwehrgefechte, um Zeit für die Gespräche mit Vorstand und Aufsichtsrat zu gewinnen. "Frank Kramer ist unser Trainer", sagte er zwar, aber er sagte auch, dass es für einen längerfristigen Verbleib "keine Garantien" gebe. Beim Wiedersehen mit Hoffenheim am Dienstag im DFB-Pokalspiel hat Kramer aber noch die Befehlsgewalt. Der Vorstand mit Sport-Boss Peter Knäbel und Manager Schröder verwiesen auf die Leistungssteigerung der Mannschaft gegenüber dem vorangegangenen 0:4 in Leverkusen.

So wird die unangenehme Entscheidung womöglich nur um ein paar Tage verschoben, mit Blick auf das nächste Punktspiel - beim Abstiegskampf-Konkurrenten Hertha BSC - ist das Timing zwangsläufig riskant. Zur Disposition stehen beim Befund der Personalie Kramer folgenschwere Verantwortlichkeiten: Einerseits Schröders Entscheidung für den im Frühjahr bei Arminia Bielefeld entlassenen Fußball-Lehrer, andererseits der strenge Sparkurs des Vorstands, der den kostengünstigen und für alle Arrangements empfänglichen Kramer als Nachfolger des Aufstiegshelden Mike Büskens in den Ruhrpott brachte. Schalke wählte die einfachste Lösung - trotz branchenweit bekannter Erkenntnisse, die Vorbehalte gegen Kramers Trainerarbeit begründen.

So könnten nun doch wieder Extrakosten entstehen: Für die Abfindung des alten und den Lohn des neuen Trainers. Als Favorit gilt immer noch Thomas Reis, 49, der zuletzt drei Jahre mit gutem Erfolg den VfL Bochum gecoacht hat, unlängst aber nach Fehlstart und Dissonanzen entlassen wurde. Die Unstimmigkeiten hatten auch damit zu tun, dass er im Mai Kontakt zu Rouven Schröder hatte. Die beiden kennen sich aus gemeinsamen Spielerzeiten beim VfL.

Gegen Hoffenheim hatte Kramer eine Elf aufgeboten, die mit einem positiven Fußball-Entwurf überraschte. Im Zentrum agierten zwei Spieler, die der Trainer den Zuschauern bisher weitgehend vorenthalten hatte, weil sie offenbar nicht in seine Spielidee hineinpassten. Nun durften der Tscheche Alex Kral und der Franzose Florent Mollet, beide im Sommer verpflichtet und von Manager Schröder mit Vorschusserzählungen willkommen geheißen, erstmals gemeinsam im Mittelfeld spielen. Sie steigerten deutlich das spielerische Niveau. Warum Mollet, 30, bisher kaum gespielt und zuletzt sogar öfter auf der Tribüne gesessen hatte, begründete Kramer auf staunenswerte Weise: "Er ist ein guter Kicker, aber er kommt aus einer anderen Liga und spricht eine andere Sprache." Allerdings spricht Mollet nicht Chinesisch, sondern Französisch, und mit Profifußball ist er unter anderem durch 173 Einsätze in der ersten französischen Liga vertraut. Er habe "Zeit zur Eingewöhnung" gebraucht, fand Kramer jedoch.

Dank Mollet und Kral hatte Schalke bis zur Pause mehr als ein halbes Dutzend vielversprechender Torszenen, die erste Halbzeit habe "richtig Spaß gemacht", sagte Mittelstürmer Simon Terodde, der bisher selten Spaß hatte an Kramers Fußball und deswegen der innerbetrieblichen Opposition zugerechnet wird.

Die TSG offenbarte mehr Klasse und Strategie, aber Schalke hielt ordentlich mit. Bis zum 0:2. "In der einen oder anderen Situation haben wir nicht gut verteidigt, das muss man auch sagen", räumte Terodde ein und berührte damit ein wesentliches Problem. Ein Gleichgewicht der defensiven und offensiven Elemente hat Kramer in den knapp vier Monaten seines Wirkens nie herstellen können, er hat keine Stärken entwickelt und die Schwächen nicht behoben, und die Tendenz lässt nicht Besserung, sondern eine Vertiefung der Kontraste erwarten. Die erste Hälfte gegen die TSG deutete immerhin an, dass ein erfolgreicher Abstiegskampf mit dieser Schalker Mannschaft definitiv schwierig wird - aber immer noch möglich ist.

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