Süddeutsche Zeitung

Europameister Italien:Donnarummissimo statt Dollarumma!

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Gemeinsam mit den Innenverteidigern Chiellini und Bonucci gilt Torhüter Donnarumma in Italien als "Mauer Europas" - selbst ein sich abzeichnender Wechsel nach Paris wird ihm verziehen.

Von Javier Cáceres, London

Das Elfmeterschießen war beendet, und Gianluigi Donnarumma gab der Welt ein großes Rätsel auf. Hatte der Torwart womöglich gar nicht überrissen, was seine letzte Parade bedeutet hatte? Dass also Italien in Wembley gegen England gesiegt, mithin die EM gewonnen hatte? Dass er selbst der Held geworden war, der später auch noch als der herausragende Spieler des Turniers geehrt werden sollte?

Das Rätsel rührte daher, dass Donnarumma sich den Konventionen entzogen hatte. Er hatte nicht gejubelt und war nicht ziellos stiften gegangen, wie es so viele im Augenblick des Triumphs tun. Er war auch nicht in die Knie gegangen oder hatte sonst irgendetwas getan, was Freude verhieß. Er wirkte vielmehr so, als wäre sein Job noch nicht erledigt. Soeben hatte er den Elfmeter von Bukayo Saka pariert, da ging er schon gemächlich Richtung Strafraumgrenze. Seine Arme ließ er halbangespannt hängen; die Hände auf Hüfthöhe wie ein Pistolero vorm Saloon, als schaue er sich um, ob von irgendwoher noch Gefahr drohte, als halte er seine Colts im Halfter griffbereit. Womöglich war es ihm noch unmöglich, den Tunnel zu verlassen, in den er sich begeben hatte, um die Hände auf die EM-Trophäe zu legen. Oder wartete er auf den Videoschiedsrichter? Der VAR kam nicht; schon aber die Kameraden, die von der Mittellinie auf ihn zustürmten und unwiderstehlich über ihn hinwegschwappten wie ein Haufen fleischgewordener Liebe.

"Wir können uns glücklich schätzen, dass er bei uns ist. Denn er ist der beste Torwart der Welt", sagte Italiens Trainer Roberto Mancini nach der Partie. Und anderntags konnte man das Lächeln förmlich hören, als Dino Zoff in Italien am Telefon ein paar Fragen der SZ beantwortete. Unter anderem jene, die darum kreiste, ob Italien wohl einen epochalen Torwart brauchte, um einen Trophäe zu holen. So wie Zoff einer war, damals, beim EM-Sieg 1968 und beim WM-Triumph von 1982. Oder wie Gianluigi Buffon, Donnarummas Namensvetter und Vorbild, als er die WM 2006 festhielt.

Zoff war 26 Jahre alt und erst auf dem Weg zur Legende, die er später wurde, als er den ersten (und bis zum Sonntag einzigen) EM-Titel Italiens gewann. Donnarumma hingegen ist erst 22 "und bereits ein Großer", wie Zoff erklärte. Donnarumma, der in diesem Sommer den AC Milan verlassen wird und nur vorerst vereins- und arbeitslos ist, sei ein "physisch herausragender Torwart", der "trotz seiner Körpergröße (1,96 Meter) grandiose reaktive Fähigkeiten hat", sagt Zoff.

Er ist tatsächlich fast so elastisch und agil wie der viel kleinere Schweizer Yann Sommer; und er ist "mit einer Entschlossenheit und einem Instinkt gesegnet, die ihn einen entscheidenden Beitrag zum Sieg im Elfmeterschießen liefern ließen". Das sagte Zoff am Montagmorgen. Da hatte er bereits nachlesen können, wie sehr Donnarumma das Land zu Füßen lag, in dicken und dünnen Lettern.

"Statt Gigi habe wir nun Gigio!", sagt Chiellini über Donnarumma

"Der Held", "der Mythos", schmachtete ihn La Repubblica an; Donnarumma sei "der Gigant, der uns alle beschützt hat", "der Everest dieser Mannschaft". Die Dehnung von Donnarummas Spitz- und Nachnamen zu Superlativen las sich so flüssig, dass sie wohl bald eine offizielle Anerkennung durch die Akademie für italienische Sprache erfahren dürfte: "Gigionissimo" lautete ein Neologismus, "Donnarummissimo" ein weiterer. Geht noch mehr? Oh ja: Donnarumma sei "die uneinnehmbare Windmühle" mit gigantischen Flügeln, er werde nun bald wohl "Le Moulin Jaune" gerufen werden. In Paris steht bekanntlich bereits das Moulin Rouge, Donnarumma wird wohl alsbald bei Paris Saint-Germain unterschreiben. Dort zeichnet sich das interessanteste Torwart-Duell Europas ab. Denn der Klub hat gerade erst den Vertrag mit dem Costa-Ricaner Keylor Navas verlängert. Der ist zwar schon 34, verfügt aber noch immer über die Reflexe eines jungen Katers.

Andererseits: Was wäre Donnarumma gewesen ohne "die Mauer Europas", wie die Gazzetta dello Sport über die Innenverteidiger Giorgio Chiellini, 37, und den drei Jahr jüngeren Leo Bonucci schrieb, die in Chiellinis Hotelbett ein Selfie mit dem Pokal machten? "DBC", also Donnarumma, Bonucci und Chiellini, waren in jeder Hinsicht grundlegend für den Titel der Italiener, wobei Donnarumma und Bonucci ein wenig im Schatten des großen Chiellini gestanden hatten. Eine feine Vorlage des Schicksals war es, dass Bonucci den frühen Führungstreffer von Luke Shaw (2. Minute) ausglich (67.) und damit das Elfmeterschießen erst möglich machte, in dem Donnarumma zum Protagonisten wurde. "Das war ein historisches Tor, ein Traum, der wahr geworden ist", sagte Bonucci. "Wir haben Geschichte geschrieben, wir hatten im Elfmeterschießen Gigione auf unserer Seite", erklärte wiederum Kapitän Chiellini - und postete später emotionale Satzfetzen auf seinem Socialmedia-Account, über das, was man alles "vor Augen" und "im Herzen" gehabt habe: "Der Schmerz jener, die gelitten haben. Die Müdigkeit derer, die während der Pandemie in die Knie gezwungen wurden. Die Lust, wieder zu leben. Die Gesichter der Frauen, der Männer, der Alten, der Jungen, der Kinder und jener, die Leben gerettet haben: der Ärzte."

Für Donnarumma hatte er im italienischen TV ein paar Worte der Anerkennung gehabt. "Was soll ich über ihn sagen?", fragte er, "statt Gigi habe wir nun Gigio!" Und auch Dino Zoff sieht ihn auf dem besten Wege, zur bestimmenden Torwartfigur der kommenden Jahre zu werden. "Er ist so jung, dass er eine Ära prägen muss!", sagte Zoff. Das beste Spiel Donnarummas sei die Partie gegen Belgien in München gewesen, als er gegen Kevin De Bruyne "die perfekte Parade" zeigte. In sieben Spielen kassierte Donnarumma vier Treffer.

Nur Donnarumma gab sich zurückhaltend, er untersagte es, Parallelen zum heute 42-Jährigen Buffon zu ziehen, "Gigi ist unvergleichlich", argumentierte er. Doch er ist es auf seine Weise auch. Er wurde in der Nähe von Neapel geboren, in einem Ort namens Castellammare di Stabia; aber sein Profidebüt feierte er im Norden, im Alter von 16 Jahren, beim AC Milan, den er mal seinen Herzensklub nannte.

Dass er dennoch dem Ruf des Geldes folgt und wohl bei Paris Saint Germain unterschreibt, nehmen ihm viele Italiener krumm. Als "Dollarumma" wurde sein Name verballhornt - zumindest vor seiner Heiligsprechung nach dem Finale. Tempi passati, es war einmal. Es gilt nur noch der Blick in die Zukunft. Und als er sich selbst die Zukunft ausmalte, lächelte Donnarumma, als wisse er, was da kommen wird. "Dies war erst der Anfang", sagte er.

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