Süddeutsche Zeitung

Eishockey:Neue Sensibilität

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Der alte Leitsatz "No pain, no gain", frei übersetzt: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Eishockeyspieler lieben ihn", gilt nicht mehr uneingeschränkt. Todesfälle und Suizide in der NHL haben die Denkweise verändert.

Von Johannes Schnitzler

Es war der Schockmoment im Playoff-Viertelfinale der Deutschen Eishockey Liga. Nach einem Check des Berliner 115-Kilo-Rammbocks Milan Jurcina sackte der Kölner Jean-François Boucher wie ein gefällter Baum zu Boden. Auf dem Eis breitete sich Blut aus. Für Boucher war die Saison beendet. Als am Abend die Diagnose kam, reagierten Beobachter der Szene dennoch geradezu erleichtert: Boucher hatte "nur" eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Gerade noch mal Glück gehabt.

Eishockeyprofis sind nicht zimperlich. Im Internet kann man Filme sehen, wie Spieler sich nach rasselnden Karambolagen quasi ambulant zwischen zwei Wechseln selbst ein paar Zähne ziehen. Der alte Leitsatz "No pain, no gain", frei übersetzt: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Eishockeyspieler lieben ihn", gilt indes nicht mehr uneingeschränkt. Berichte aus Nordamerika über Depressionen, Todesfälle und Suizide in der NHL als Spätfolgen von Gehirnerschütterungen haben die Denkweise verändert. Neue Regeln, härtere Strafen und technisch verbesserte Ausrüstungen sollen die Spieler schützen. Offiziell (zumindest für die Versicherung) tragen mittlerweile alle Profis einen Zahnschutz. Durch die Einführung von Halbvisieren hat sich die Zahl der Augenverletzungen reduziert. Schulter und Knie sind neuralgische Punkte. Doch der Kopf bleibt die verwundbarste Stelle des Eishockeyspielerkörpers. Es ist das eindeutigste Ergebnis der VGB-Studie: Egal ob Platzwunden, Brüche oder ausgeschlagene Zähne - alle erfassten Kopfverletzungen sind auf Kontakt mit dem Gegner zurückzuführen.

100 Prozent. Immerhin, die Branche ist sensibler geworden. Initiativen wie "Stop Concussions" klären über Gefahren von Gehirnerschütterungen auf und setzen sich für Opfer ein. Rekonvaleszenten tragen im Training farblich auffallende Ausrüstung, die signalisieren soll: Vorsicht, zerbrechlich! Nach Ansicht von Andrea Fürst, Leitende Ärztin für Neurologie an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik im oberbayerischen Murnau, werden allerdings noch Jahre vergehen, ehe sich deutsche Diagnose-Standards an die nordamerikanischen angleichen. Dort kommen im Eishockey wie im Football "Concussion Spotters" zum Einsatz, geschulte Beobachter, die einen Spieler sofort aus der Partie nehmen, wenn er verdächtige Symptome zeigt. Hierzulande werde eine Gehirnerschütterung immer noch mit Bewusstlosigkeit verknüpft, sagt Fürst, viele Fälle blieben unerkannt. Nicht jeder K.o. ist so offensichtlich wie der von Jean-François Boucher.

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SZ vom 02.06.2016
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