Süddeutsche Zeitung

DFB-Team:Jetzt beginnt die Zeit für Experimente

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Um eines Tages wieder Weltspitze zu sein, braucht das DFB-Team neue Ideen. Der Kreativität des Bundestrainers sollten keine Grenzen gesetzt sein.

Kommentar von Sebastian Fischer

Es lief die 89. Minute des Spiels zwischen Deutschland und Frankreich, als das Publikum in München Zeuge einer Weltpremiere wurde. Oder doch zumindest von einem in der jüngeren Fußballgeschichte seltenem Ereignis: Toni Kroos, berühmt als erhabener Passspieler, berüchtigt als oft träger Zweikämpfer, grätschte. Indem er zu diesem ihm fremden, niederen Stilmittel griff, war er der Protagonist einer symbolhaften Szene für den angekündigten Neuanfang. Es geht im deutschen Fußball jetzt um Spieler, die sich neu erfinden müssen. Es geht auch um einen Trainer, der sein Team neu erfinden muss.

Kroos ist in diesen Tagen nach der Taktik in der Nationalelf gefragt worden, er sollte sie mit jener in seiner Vereinsmannschaft vergleichen, dem Champions-League-Sieger Real Madrid. Ob er sich auch in der Nationalelf einen Spieler wie den Brasilianer Casemiro wünsche, der ihm im Alltag mit unendlicher Laufarbeit und präzisen Grätschen den Rücken freihält, Konter verhindert, Zeit und Raum für Ideen spendet? Kroos sagte: "Das ist ein Typ, den wir hier nicht haben." Schade eigentlich? Er sagte: "Wir können uns so jemanden nicht bauen." Das 0:0 gegen Frankreich hat nun gezeigt, dass sich der deutsche Fußball einen Casemiro doch bauen kann. Er hat bloß mehrere Köpfe.

Joachim Löw hatte in seiner WM-Analyse eingeräumt, Entwicklungen im Weltfußball in einem Anflug von Arroganz ignoriert zu haben, und angekündigt, seine Taktik fortan dem Trend anzupassen. Wie er es nun im ersten Spiel nach dem Ausscheiden in Russland erfolgreich getan hat: mit einer Reminiszenz an die WM 2014, einer aus vier Innenverteidigern bestehenden Abwehrkette, dem als Außenverteidiger bewährten Joshua Kimmich in der Rolle des defensiven Mittelfeldspielers hinter Leon Goretzka und einem Kroos, der sich für Grätschen nicht zu schade ist. Das zeugt von einer Experimentierfreude, die es für den Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft braucht. Denn es ist nicht nur der Typ Casemiro, den Deutschlands beste Fußballer in Gemeinschaftsarbeit nachahmen müssen.

Es fehlt an Tempodribblern und offensivstarken Außenverteidigern

Wenn man es anhand der bei der WM erfolgreichen Mannschaften erklären will, dann fehlt es der Nationalelf auch an einem Stürmer wie dem Kroaten Mario Mandzukic, der im Zentrum die Bälle hält und Angriffe vollendet - wie sehr, das zeigte die beste Chance des Spiels, als Thomas Müller eine Flanke annahm und sich umdrehte, anstatt mit dem Kopf abzuschließen. Es fehlt an "Raketen", so hat Julian Draxler Spieler wie Frankreichs Kylian Mbappé genannt, die sich die Freiheit nehmen, mit Dribblings eine Partie zu entscheiden. Es fehlt, gerade falls sich Kimmich zum zentralen Mittelfeldspieler entwickelt, an Außenverteidigern, die auf großer Bühne eine Rolle als verkappte Spielmacher übernehmen können.

"Unsere Breite in Deutschland ist jetzt auch nicht so unermesslich", das hat Löw vor dem Spiel gesagt, es war die Rechtfertigung, weiter einer Achse erfahrener Spieler zu vertrauen. Er könnte den Satz gleichermaßen als Aufforderung an sich selbst verstehen, der Kreativität keine Grenzen zu setzen. Dass er eine Rückkehr des Münchner Stürmers Sandro Wagner ausgeschlossen hat, könnte sich zum Beispiel als Fehler herausstellen. Die von Löw ausdrücklich erwünschte neue Variabilität ist damit im Angriff gleich mal eingeschränkt. Marco Reus ist zwar ein unbestritten hervorragender Fußballer. Doch als "falsche Neun", wie er gegen Frankreich spielte, kommen seine Fähigkeiten wohl zu selten zur Geltung.

Mit dem Spiel gegen Frankreich hat die DFB-Elf gezeigt, dass sie weiterhin mit der Weltspitze mithalten kann. Mit dem Spiel gegen Peru am Sonntag beginnt die Zeit der Ideenfindung, um eines Tages wieder die Weltspitze zu sein.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2018
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