Süddeutsche Zeitung

Deutschland in der Nations League:Rätselhafter Sowohl-als-auch-Abend

Lesezeit: 4 min

Krisen-Bayern, ein fast echter Mittelstürmer und ein komisches 3:3 in England: Die DFB-Elf versucht trotz der anhaltend unbefriedigenden Resultate Positives Richtung WM mitzunehmen - Hoffnung macht ein Schlangentänzer.

Von Philipp Selldorf, London

Oft sind Schweigeminuten beim Fußball in Wahrheit bloß ein paar verordnete Schweigesekunden. Das nicht endende englische Gedenken an die vor 18 Tagen verstorbene Königin Elizabeth II. dauerte jedoch am Montagabend in Wembley tatsächlich die verheißene Minute, und die 78 949 zahlenden Besucher schienen dazu sogar alle miteinander die Luft angehalten zu haben, denn außer einem einzeln pfeifenden Menschen und einem diskret schreienden Kleinkind gab wirklich niemand einen Ton von sich.

Was man nicht wissen konnte: Dass das stille Innehalten lange Zeit das bei weitem beeindruckendste Erlebnis der Begegnung zwischen England und Deutschland bleiben würde, weshalb sich die Schweigeminute zur Schweigedreiviertelstunde plus Nachspielzeitschweigen verlängerte. 78 949 Menschen verstummten im Angesicht eines Spiels, das bei vollständig wirkungsloser deutscher Feldüberlegenheit bis auf zweieinhalb brisante englische Konter nichts Erinnerbares hervorbrachte.

Deutschland ist ratlos vor der in wenigen Wochen beginnenden WM

Dass dieser deutsch-englische Abend noch dem alten Franz-Beckenbauer-Bonmot "We call it a Klassiker" die Ehre geben würde, das hätte zur Pause kein Mensch in Wembley für möglich gehalten. Doch wo sich eben noch beide Seiten selbst im Wege gewesen waren, gingen sie nun ungehemmt aufeinander los und lieferten schließlich ein verrücktes 3:3 ab, das die beiden alten Fußballmächte rätselnd und ratlos, aber auch irgendwie froh und versöhnt in die letzten Wochen vor der WM entließ.

So durfte der deutsche Bundestrainer einerseits erfreut berichten, dass seine Mannschaft "zwanzig Minuten richtig guten Fußball gespielt" und verdientermaßen einen 2:0-Vorsprung erwirtschaftet hatte. Doch musste Hansi Flick auch davon berichten, dass sich die gleiche Elf Meter um Meter zurückdrängen und binnen zehn Minuten drei Tore verpassen ließ. "Einen Bruch" habe es gegeben, den es niemals hätte geben dürfen, sagte Flick streng und wusste trotzdem von einem guten Ende zu erzählen: "Positiv ist, dass wir nochmal zurückgekommen sind." Kai Havertz, zuvor schon Schütze des 2:0, gelang in der 87. Minute noch der Ausgleich.

Zu diesem an Widersprüchen reichen Sowohl-als-auch-Abend passte, dass das Tor zum 3:3 ein Geschenk des englischen Schlussmanns Nick Pope war, der mit vielen heiteren Kapriolen die gute alte Tradition der englischen Pannentorhüter wiederbelebte. Zugleich handelte es sich aber auch um einen seriösen Abstaubertreffer, der den Auftritt der Sturmspitze Havertz schlagartig aufwertete. Von Havertz hatte man die meiste Zeit über nicht viel gesehen, trotzdem geht in die Überlieferung ein, dass er zwei Tore erzielt hatte - so wie es wahrhaftige Mittelstürmer eben machen. Und ein wahrhaftiger Mittelstürmer ist bekanntlich genau die Spielfigur, die der Nationalelf schon so lange so dringend fehlt - was nicht automatisch heißt, dass dank Havertz die Suche nun beendet wäre. Zu viel Willkür steckte in der Partie, als dass sie etwas Logisches hervorbringen konnte.

In diesem hin und her schwankenden Spiel sei "für jeden was dabei" gewesen, der vor der WM nach einer Erkenntnis über den deutschen Leistungsstand sucht, sagte Thomas Müller. Der Münchner wurde spät eingewechselt, er kam ein paar Minuten nach Serge Gnabry, und der eine oder andere Beobachter fühlte die Versuchung, Flick dafür zur Verantwortung rufen zu wollen.

Drei Tage zuvor, beim 0:1 gegen Ungarn, hatten Müller und Gnabry ihren Anteil am Misslingen gehabt, fürs Erste schienen sie deswegen auf der Ersatzbank bestens aufgehoben zu sein. Dann trug der von Flick eingewechselte Gnabry durch sträflich passives Verhalten zum Anschlusstreffer bei (72.), während Müller drei Minuten nach Betreten des Feldes Zeuge von Harry Kanes tollem Elfmeter zum 3:2 wurde (82.). Und man dachte: Da sind sie wieder, die Krisen-Bayern.

Jamal Musiala erfüllt all die eigentlich viel zu hohen Erwartungen in einen 19-Jährigen mit Genie und Beharrlichkeit

Zugleich gebührt dem FC Bayern aber auch der Dank dafür, Jamal Musiala ans DFB-Team herangeführt zu haben. Ohne Musiala hätte es weder das 1:0 (Ilkay Gündogan per Elfmeter, 52.) noch das 2:0 (Havertz, 67.) gegeben. Alle eigentlich viel zu hohen Erwartungen erfüllte das 19-jährige Universaltalent sowohl mit Genie wie mit Beharrlichkeit. Uli Hoeneß hob als Augenzeuge vor dem RTL-Mikrofon mit Recht hervor, dass Musiala "dem Druck standgehalten" habe, nachdem ihn die Medien zuvor bereits "zum Messias" stilisiert hätten.

Die Engländer würdigten Musialas Ruf und Rang, indem sie ihm eine ständige Manndeckung widmeten. Zunächst hielten sie ihn damit unter Kontrolle, doch in der zweiten Hälfte war er nicht mehr zu stoppen, wenn er seine Schlangentänze mit Ball aufführte. "Jamal hat gezeigt, was für ein außergewöhnliches Talent er ist. Er hilft uns defensiv und offensiv", sagte Hansi Flick.

Fairerweise hätte der Bundestrainer auch Englands Verteidiger Harry Maguire Dank aussprechen dürfen. Vor dem 0:1 hatte er Musiala mit einem Fehlpass bedient, gleich darauf senste er ihn mit einem Tritt vors Schienbein im Strafraum um. Jeder hatte es gesehen, bloß Schiedsrichter Danny Makkelie nicht, dem erst der Videokollege Bescheid sagen musste. Dass der erfahrene Referee später auch das grobe Foul des auch sonst nicht untadeligen Nico Schlotterbeck an Jude Bellingham übersah, zeigt, dass nicht nur die vermeintlichen Titelkandidaten Deutschland und England noch nicht in WM-Form sind. Auch Makkelie muss in Katar besser sein als am Montagabend in London.

Die deutschen Fußballer verließen dennoch mit auffallend guter Laune das Festspielhaus. Diese beiden Länderspiele waren letztlich halt bloß ein Intermezzo, das quer im überfüllten Terminkalender stand. Bloß nicht zu sehr über die Mängelliste grübeln, empfiehlt daher Thomas Müller: Trotz anhaltend unbefriedigender Resultate - lediglich einen Sieg gab es in den jüngsten sieben Partien - müsse man "Spaß und Lust beibehalten", um beim WM-Turnier "den deutschen Turniermannschaftsmythos aufleben zu lassen". Alles bestens, behauptete Müller, es war doch nur die Generalprobe, und die sei nun mal "nicht die große Show und die große Bühne". Nicht mal dann, wenn diese Bühne im heiligen Wembley steht.

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