Süddeutsche Zeitung

Niederlage des DFB-Teams:"Wir sind nur hinterhergelaufen"

Lesezeit: 3 min

Von Carsten Scheele, Hamburg

Als sich die deutschen Fußballer auf die Ehrenrunde schleppten, waren die Ränge im Hamburger Volkspark bereits halb leer. Viele weiße Sitzschalen lugten hervor, nur hoch oben im Oberrang war etwas los: Dort schimmerte es knallig orange, die Niederländer tanzten, grölten, hüpften. Ein Sieg im Stadion des großen Konkurrenten - es wurde eine lange Nacht.

Während die Holländer jubilierten, saß etliche Stockwerke weiter unten auf der Pressekonferenz der deutsche Bundestrainer. Auch er hatte einen denkwürdigen Abend erlebt, nur irgendwie andersherum. "Wenn man ehrlich ist, geht das Ergebnis so in Ordnung", sagte Joachim Löw zerknirscht ins Mikrofon. 2:4 (1:0) nach insgesamt 94 Spielminuten, vier Gegentore nach Führung im eigenen Stadion, dies war noch nie passiert in der Länderspielgeschichte beider Nachbarn. Löw vollendete sein Eingeständnis der Niederlage: "Holland war die bessere Mannschaft."

Die Niederlage brach unerwartet über die Deutschen herein, denn es waren ja das DFB-Team, das sich nach der verpatzten WM und dem Abstieg aus der Nations League im Jahr 2018 auf gutem Wege wähnte, wieder zu den größten Fußballnationen zu stoßen. Das Zweivier von Hamburg brachte da einerseits die Gewissheit, dass der Prozess der Neujustierung den ein oder anderen Monat länger dauern dürfte als erhofft, wenn es bei Monaten bleibt. Zum anderen ist Platz eins in der EM-Qualifikationsgruppe C - so die unmittelbare Konsequenz - in der komplizierten Gruppenarithmetik ein Stück unwahrscheinlicher geworden, weil die Niederländer im direkten Vergleich (2:3 im Hinspiel) jetzt vor der DFB-Elf liegen.

Die größte Überraschung war, dass Löw eine Taktik gewählt hatte, die sich sehr vom deutschen Spiel der jüngeren bis mittleren Vergangenheit unterschied - und die man dem Bundestrainer, ehrlicherweise, auch nicht zugetraut hätte. Löw, der Ballbesitz- und Offensivliebhaber, der große Fan der spanischen Fußballlehre, hatte seiner Mannschaft eine seltsame Passivität verordnet. Vereinfacht gesagt bekamen die Niederländer den Ball und durften ihn behalten; zur Illustration der deutschen Absichten bildeten Niklas Süle, Matthias Ginter und Jonathan Tah, unterstützt von den Außen Nico Schulz und Lukas Kostermann, hinten eine defensive Fünferkette. Nur aufs Kontern war die DFB-Elf ausgelegt, das klappte zunächst: Joshua Kimmichs öffnender Ball landete bei Klostermann, dessen Abpraller verwertete Serge Gnabry zur frühen Führung (9.). Doch am Ende schlugen die Holländer mit der Taktik zurück, die sich Löw für sein eigenes Team zurechtgelegt hatte.

Löw verteidigt seine Spielidee

Als die Niederländer ebenfalls fix konternd aus der Pause kamen, war es um die Stabilität im deutschen Spiel geschehen. Erst erzielte Frenkie de Jong auf herzliche Einladung von Tah und Schulz den Ausgleich (1:1, 59.), ehe demselben Tah sechs Minuten später ein Eigentor unterlief. Toni Kroos schaffte per (eindeutig unberechtigtem) Handelfmeter den Ausgleich (2:2, 65.), doch Hollands Debütant Donyell Malen (79.) und Georginio Wijnaldum (91.) stellten auf das Endergebnis. Die Abwehrschwächen des DFB waren frappierend: Vor dem ersten Gegentor kippte Tah im Strafraum einfach um, das Eigentor war noch das geringste Vergehen. Dem dritten Gegentor ging ein Fiaskopass von Matthias Ginter zuvor, beim finalen vierten Tor waren sowohl Tah als auch Süle zu langsam.

Kritik an seiner Spielidee ließ Löw nicht zu, obwohl diese durchaus berechtigt gewesen wäre. Für ihn war es keine Frage der taktischen Ausrichtung, die natürlich funktioniert hätte, hätten die Spieler nur das getan, wie der Bundestrainer ihnen geheißen hatte. Löw sprach lieber über individuelle Fehler, so habe man "das Zentrum völlig entblößt", obwohl man sich das Gegenteil vorgenommen hatte. Auch sei es nicht der Plan gewesen, über weite Strecken mit einer Fünferkette zu agieren, doch dazu hätten die Außenspieler konsequenter mit nach vorne drängen müssen. "Qualitätsmängel haben wir keine", nahm der Bundestrainer seine taumelnden Defensivkräfte etwas verspätet doch noch in Schutz, "aber das sind Fehler, die dürfen gegen Holland nicht passieren."

Das sahen auch die Spieler so, einerseits. Die Niederlage sei "komplett vermeidbar" gewesen, sagte Marco Reus. "Es passiert uns zu oft, dass wir eine Führung hergeben", kritisierte auch Kimmich. Doch dann sagten die Spieler noch einige Sätze, die darauf schließen ließen, dass sie sich in Löws Taktik nicht unbedingt wohl gefühlt haben an diesem Abend. Da war zum einen Süle, der noch beste der drei Innenverteidiger, der vom Spielverlauf mehr als überrascht schien. Man habe viel zu wenig Ballbesitz gehabt, "das kann nicht unser Anspruch sein". Kimmich ergänzte, er habe die Kontolle über das Spiel vermisst: "Über die Dauer sind wir nur hinterhergelaufen." Reus schilderte, wie schwer es für die drei Offensivkräfte gewesen sei, weil sich der Rest der Mannschaft weit zurückgezogen habe. Man habe "so tief gestanden, das ist schwierig, weil der Weg nach vorne sehr weit ist". Auch Bondscoach Ronald Koeman hatte erkannt, wie leicht es seiner Mannschaft gemacht wurde: "Ich war überrascht, dass sie uns den Ball überlassen haben." Zudem hätte seine eigenes Team "mehr getan für den Sieg" als die Deutschen.

Eine wirklich effektive Taktik für seine erneuerte Mannschaft hat Löw neun Monate vor dem EM-Turnier noch nicht gefunden - positiv formuliert weiß er nun zumindest, wie es gegen gutklassige Gegner nicht geht. Am Montag in Belfast muss er gegen defensiv orientierte und mit langen Bällen operierende Nordiren ohnehin umstellen: "Die spielen einen völlig anderen Fußball", bestätigte Löw und erließ, Taktik hin oder her, für das Spiel beim Tabellenführer eine klare Vorgabe: "Wir sollten in Nordirland gewinnen", kurze Pause, "und die nächsten Spiele auch." Nicht, dass die Qualifikation für die EURO 2020 noch eine aufregende Angelegenheit wird.

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