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Deutsche Nationalelf:Testspiele als Festspiele

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Die deutsche Nationalelf spielt viel zu gut derzeit. Sie reihte Momente der Perfektion aneinander, bis sich daraus abgeschlossene Sequenzen ergaben. Ketzer behaupten: Nicht mal die Spanier gelangen so dynamisch geradlinig vors Tor wie am Dienstagabend die Deutschen.

Philipp Selldorf

Noch 204 Tage bis zum Beginn der EM, "ein sehr langes halbes Jahr", wie der Bundestrainer in Hamburg sagte. Ihm wäre ein sehr kurzes halbes Jahr lieber, noch lieber würde er wohl schon übermorgen das Turnier eröffnen, selbst wenn das bedeuten müsste, auf Bastian Schweinsteiger zu verzichten.

Aber: Schweinsteiger? Wer war das noch mal? Hat man den vermisst, als man Holland "in Grund und Boden spielte", wie Manuel Neuer schonungslos ehrlich bekannte?

In dieser Luxus-Mannschaft gibt es zwar viele Spieler, deren Talente sie einzigartig erscheinen lassen, aber dank des hoch entwickelten Ganzen kaum einen mehr, der eine leere Stelle hinterlässt, wenn er mal fehlt. Die Ausnahme bildet Thomas Müller, der unter den großen Fußballern auf der Welt unvergleichlich ist. Eine schräge, aber gute Laune der Natur hat ihn hervorgebracht.

In Hamburg haben Müller und Kollegen dem ohnehin glänzenden Länderspieljahr eine funkelnde Krone aufgesetzt. Wie im vorigen Jahr hat die Nationalmannschaft auch 2011 ein Konjunkturhoch ohne Brüche und nennenswerte Schwankungen erlebt, von Partie zu Partie ist sie besser geworden. Das Publikum wird verwöhnt wie selten zuvor, Testspiele sind auf einmal Festspiele.

Im August beim 3:2 gegen Brasilien hatte das DFB-Team ein wunderbares Spektakel geboten, aber beim 3:0 gegen Holland hat es ein Niveau in der Nähe der Vollendung erreicht, das Rätsel aufgab: War es die Fortsetzung der Steigerung oder eine gesteigerte Fortsetzung?

Die Deutschen reihten Momente der Perfektion aneinander, bis sich daraus abgeschlossene Sequenzen ergaben. Ketzer behaupteten: Nicht mal die Spanier gelangen so dynamisch geradlinig vors Tor wie am Dienstagabend die Deutschen, und schon gar nicht bringen sie deren Effizienz zustande, wenn sie vor dem Ziel stehen. Die Ketzer mögen vielleicht recht haben. Aber richtig von Belang ist ihre Diagnose erst, wenn sie sie nächstes Jahr im Sommer wiederholen dürfen.

Die Frage ist, ob sich eine Nationalelf das leisten kann: ein halbes Jahr vor dem Startschuss in bester Turnierform zu sein. Sowas ist gegen die nationale Tradition und schafft Misstrauen. Die Konkurrenz beruhigt ihre Anhänger, indem sie Raum zur Steigerung lässt:

Die Spanier haben nach einer 0:1-Niederlage in England soeben mit Ach und Krach ein Remis in Costa Rica erreicht. Italien und Frankreich haben ihr Publikum enttäuscht. Und die schlauen Holländer haben sich vom DFB kostenlos Nachhilfe geben lassen.

Die Deutschen spielen viel zu gut zurzeit. Dieser Vorwurf wird den Bundestrainer sicher hart treffen.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2011
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