Süddeutsche Zeitung

US Open:Cocomania in Flushing Meadows

Lesezeit: 4 min

Von Jürgen Schmieder, New York

Eine Geschichte über Cori Gauff sollte beim Tennisturnier Little Mo im US-Bundesstaat Texas beginnen. Es sind amerikanische Meisterschaften für Kinder, die ihren achten Geburtstag noch nicht gefeiert haben - was zur Frage führt, ob es in einer Nation mit 320 Millionen Einwohnern und einer Fläche von zehn Millionen Quadratkilometern tatsächlich nationale Titelkämpfe für Grundschüler braucht. Cori Gauff, genannt Coco, aus Delray Beach in Florida, 2100 Kilometer entfernt vom Tennisgelände in Austin, hat dieses Turnier im Jahr 2012 gewonnen, und schon damals sagten Beobachter, dass dieses Mädchen mal berühmt werden würde.

Nun ist es so weit. Wobei man sagen muss, dass "berühmt" eine Untertreibung ist - als würde man sagen, dass beim Besuch der Beatles in den USA ein bisschen was los gewesen sei. Es herrscht Cocomania am Samstag in Flushing Meadows, die Leute tragen T-Shirts mit der Aufschrift "Call me Coco", ein Wortspiel auf den englisch-spanischen Ausruf "Call me Loco" ("Haltet mich für verrückt!"). Unter dem Hashtag #CallMeCoco wird auf Twitter so ziemlich alles veröffentlicht, das irgendwie mit ihr zu tun hat: das Kleid, auf dem die Tennisplätze von New York abgebildet sind. Jubelposen. Das Zucken vor dem Schwingen der Rückhand.

Natürlich behaupten sie bei den US Open an jedem Abend, dass die größte Tennisarena der Welt ausverkauft sei - bei der Partie gegen Titelverteidigerin Naomi Osaka sind allerdings wirklich 23 711 Leute auf ihren Plätzen. Gauff ist 15 Jahre alt. In diesem Alter gehen Teenager zum ersten Mal auf ein Rockkonzert oder küssen zum ersten Mal einen anderen Menschen. Gauff spielt zum ersten Mal im Arthur Ashe Stadium, und es sehen nicht nur im Stadion mehr Leute zu als sonst. Der Fernsehsender ESPN meldet, dass die Zuschauerzahlen bei den Partien Gauffs fast vier Mal so hoch sind wie der Tagesdurchschnitt. Eine Mitarbeiterin des Senders sagt, dass beim Doppel von Gauff mehr Menschen eingeschaltet hätten als beim Einzel von Serena Williams.

Osaka gewinnt 6:3, 6:0. Gauff hat keine Chance, sie will danach einfach nur weg, runter vom Platz, raus aus diesem Stadion - doch sie darf nicht. Osaka bitte sie, kurz zu bleiben und gemeinsam zum Volk zu sprechen. Osaka sagt danach: "Ich habe gesehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ich dachte, dass es vielleicht nett sein würde, wenn sie ein paar Worte an die Leute richtet, die sie angefeuert haben."

Eine Sportlerin muss immer auch eine Marke sein. Profisport ist keine Meritokratie, in der die Besten die Reichsten sind. Es verdienen die das meiste Geld, die das Publikum elektrisieren. Gauff steht da, beginnt zu weinen, später wird sie sagen: "Ich will nicht, dass alle Leute sehen, wie ich weine." Sie sagt aber auch: "Vielleicht war es gut so, weil es gezeigt hat, dass ich menschlich bin."

Gauff hat in diesem Jahr knapp 500 000 Dollar an Preisgeld eingenommen, über Verträge mit einem Ausrüster, einem Nudelhersteller und dem Schlägerfabrikanten dürften alleine in diesem Jahr noch etwa eine Million Dollar dazukommen. Gauff wird von so ziemlich jedem Beobachter der Aufstieg zur Nummer eins der Weltrangliste und zur popkulturellen Ikone prophezeit, wie es Serena Williams nun ist, zur Multimillionärin. Und angesichts dessen, dass sie in diesem Stadion steht und weint, muss man schon mal fragen: Wie viel Druck kann eine junge Frau aushalten?

Man muss zurück nach Texas zu diesem Kinderturnier 2012, um zu verstehen, was da gerade passiert. Ihre Eltern waren Sportler an renommierten Universitäten - Mutter Candi war Leichtathletin, Vater Corey Basketballspieler -, aber sie waren niemals Profis. Nach dem Sieg der Tochter bei diesem Turnier haben beide ihre Jobs gekündigt und sich um den Traum der Tochter gekümmert, der wohl ein Stück weit auch ihrer ist. Im Alter von zehn Jahren kam sie zur Akademie von Serena Williams Trainer Patrick Mouratoglou, der heute sagt: "Ich erinnere mich noch daran, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe: Wenn sie dich ansieht und sagt, dass sie mal die Nummer eins der Welt werden wird, dann glaubst du das."

Ist das wirklich ein Kompliment, wenn man über eine 15-Jährige sagt, dass sie schon reif sei?

Es gibt nun eine Debatte bei den US Open, die sehr viel aussagt darüber, wie Profisport, Show und Geschäftemacherei zusammenhängen. Dem Reglement des Frauenverbands WTA zufolge darf eine 15-Jährige an maximal zehn Profiturnieren pro Jahr teilnehmen. Es gibt diese Regel, weil es in der Vergangenheit zahlreiche junge Spielerinnen gab, die nicht nur ausbrannten, sondern verbrannten: Tracy Austin zum Beispiel, Martina Hingis, Jennifer Capriati. Zu den US Open kam Gauff über eine Wild Card des US-Verbandes. Über eine Ausnahme darf sie bis zu ihrem 16. Geburtstag an 14 Turnieren teilnehmen.

Dieser Verband vermarktet Gauff nun als Weltsensation. Roger Federer, dessen Agentur Team Eight auch Gauff unter Vertrag hat, fordert eine Regeländerung: Er findet, dass der Druck zu groß sei, wenn Gauff nur die bedeutsamen Turniere wie Wimbledon (sie gewann gegen Venus Williams und erreichte das Achtelfinale) oder die US Open spiele: "Ich denke, dass es kontraproduktiv sein kann." Julia Görges, die gegen Gauff im Doppel verlor, sagt dagegen: "Ganz ehrlich: Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Mir tut sie etwas leid. Sie hat eine tolle Einstellung, sie ist wahnsinnig nett, aber ich möchte nicht mir ihr tauschen wollen, wäre ich jetzt 15 Jahre alt."

Die Leute, die finden, die Verbände sollten sich gefälligst raushalten aus der Lebensplanung einer Spielerin und diese Limitierung abschaffen, verweisen darauf, wie reif Gauff schon sei. Dass sie spiele wie eine Erwachsene. Dass sie erwachsene Dinge sage wie: "Für meine langfristige Karriere habe ich in den vergangenen Wochen viel gelernt." Oder: "Jeder Mensch ist anders. Ich muss mich in der Geschwindigkeit entwickeln, die richtig für Coco ist."

Die Verfechter der Regeln halten dagegen: Ist das ein Kompliment, wenn man über eine 15-Jährige sagt, sie sei schon reif? Es gibt keine allgemein gültige Antwort. Federer sagt: "Es wird keine perfekte Lösung geben." Die nächsten US-Meisterschaften für Unter-Achtjährige übrigens finden von 27. bis 30. September in Texas statt.

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Quelle:
SZ vom 02.09.2019
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