Süddeutsche Zeitung

Hängende Spitze:Mit Pöblern reden

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Schiedsrichter Patrick Ittrich stellt einen wütenden Fan zur Rede - und dem fällt gar nicht mehr ein, warum er wütend war. Ein Fall, der Schule machen dürfte.

Glosse von Ulrich Hartmann

Der Schiedsrichter Patrick Ittrich ist des Kung Fu nicht mächtig, aber nicht bloß deswegen hat er am Wochenende darauf verzichtet, einem pöbelnden Zuschauer auf der Tribüne die Sohle seines Stollenschuhs ins Gesicht zu drücken. Der Polizist aus Hamburg ist ein Verfechter der rhetorischen Deeskalation. Als er sich nach der Partie zwischen Hoffenheim und Bochum zu Unrecht diskreditiert fühlte, sprach er den Pöbler an und erkundigte sich konkret, welche Fehlentscheidung er sich denn habe zuschulden kommen lassen. Daraufhin fiel dem Pöbler nichts mehr ein. Ittrich wertete das Gespräch als gewinnbringend .

Es gibt nicht viele Beispiele dafür, wie Protagonisten im Rampenlicht aufbegehren und in die Anonymität eines pöbelnden Publikums hinein zurückschießen. Im Theaterbetrieb hat es Peter Handkes Stück 'Publikumsbeschimpfung' zu Ruhm gebracht und beim englischen Fußball in den Neunziger Jahren Eric Cantonas eingesprungener Kung-Fu-Tritt gegen einen frechen Zuschauer hinter der Balustrade. Über Cantona wurde nicht bekannt, anschließend in Kindergärten und Grundschulen eingeladen worden zu sein, um mit den Kleinen über Konfliktlösung zu diskutieren.

In dieser Hinsicht und in der Frage, wie man Pöbler freundlich, aber bestimmt zum Schweigen bringt, offenbarte das Wochenende noch einen weiteren lehrreichen Fall: Bei einem Spiel der Argentinos Juniors in Buenos Aires wurde der Trainer Gabriel Milito von einem Zuschauer wiederholt lautstark aufgefordert, doch endlich einen zusätzlichen Mittelfeldspieler einzuwechseln. An der inhaltlichen Substanz dieser taktischen Forderung offenbar aufrichtig interessiert, wandte sich der genervte Milito dem Zuschauer zu und fragte ihn entwaffnend: "Okay, und wen bitteschön?" Auch diesem Fan soll auf die konkrete Nachfrage hin nichts mehr eingefallen sein.

Im Internet ist anonyme Großmäuligkeit ein massives Problem, im Stadion hingegen eröffnet sich hier und da die Gelegenheit, Schreihälse durch bloße Fachgespräche kleinlaut zurückzulassen. Aber Achtung! Ein gesellschaftsrelevanter Faktor des Pöbelns darf dabei nicht ignoriert werden. Ittrich hat erkannt, dass gewisse Leute "nur zum Pöbeln ins Stadion" kommen, und das wäre ja auch kein Wunder in diesen Zeiten. Angesichts so beängstigender Probleme wie Krieg, Corona und Inflation vermag therapeutisches Pöbeln geplagte Seelen durchaus zu erleichtern. Zu diesem Zweck könnte man sogar darüber nachdenken, Bundesliga-Tickets auf Rezept zu verschreiben. Möglich allerdings, dass Patrick Ittrich sich dann umgehend zum "Kung Fu für Anfänger" anmeldet.

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