Süddeutsche Zeitung

Bouldern:Cooler Kopf

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Anna Lechner wurde nach dem dritten Platz bei der deutschen Meisterschaft für den Weltcup nominiert - und hat nebenbei ein Einser-Abitur gebaut.

Von Nadine Regel

Opa Alfons Lechner ist stolz auf seine Enkelin Anna. Die 18-Jährige ist Kletterin und in diesem Jahr das erste Mal bei den Erwachsenen an den Start gegangen. In ihrer Spezialdisziplin Bouldern, also dem Klettern auf Absprunghöhe, wurde sie im Juni Dritte bei der deutschen Meisterschaft in Bochum, beim Europacup in Krakau holte sie Gold und bei der Jugend-WM in Russland erreichte sie den vierten Platz. Aufgrund dieses Erfolges wurde sie von den Bundestrainern für ihren ersten Weltcup in Seoul nachnominiert, der aber pandemiebedingt abgesagt wurde. Und nun muss Lechner auch beim Saisonabschluss, dem Europacup im portugiesischen Soure am kommenden Wochenende, passen: Das Knie macht Probleme. Am Stolz des Opas ändert auch die kleine Pechsträhne zum Jahresende nichts, schließlich hat seine Enkelin erfolgreich zu den Erwachsenen aufgeschlossen.

Auch weil Anna Lechner Nerven wie Drahtseile hat, so konnte sie diese exzellente Saison abliefern und gleichzeitig die Schule mit einem Abiturschnitt von 1,6 abschließen. Keine leichte Tour, wie dieses Beispiel zeigt: Nach der erfolgreichen Teilnahme an der DM in Bochum fuhr sie in der Nacht stundenlang zurück nach München und absolvierte am nächsten Tag ihre mündliche Abi-Prüfung im Fach Biologie. Wie sie das mental gepackt hat? "Ich habe mir einen Plan gemacht, in dem ich meine Zeit in feste Tage Klettern und Schule eingeteilt habe", erklärt sie. So habe sie an jenem Kletterwochenende keine Lernsachen angeschaut und sich nur auf den Wettkampf konzentriert. "Letztendlich kann man am Abend vorher eh nichts mehr machen." Das freudige Gefühl über den dritten Platz habe sie dann in die Prüfung mitgenommen.

Lange ging es bergauf, dann kam eine Phase der Stagnation. "Da hat sie gelernt zu kämpfen", sagt die Trainerin

"Das hätte kein normaler Mensch gemacht", sagt Ines Dull. Die 30-Jährige ist bayerische Landestrainerin und betreut ihre Athleten und Athletinnen am Landesleistungszentrum in Augsburg. Dieser "coole Kopf" sei Lechners große Stärke: "Sie kann zu 98 Prozent im Wettkampf das zeigen, was sie kann." Die Nachnominierung zum Weltcup in Seoul empfindet Dull indes als "überfällig", denn ihre Athletin habe definitiv bewiesen, dass sie eine Medaillenkandidatin sei. Denn Lechner habe gelernt zu kämpfen: Nach einer Zeit des großen Fortschritts beobachte Dull bei ihren Schützlingen oft eine Phase der Stagnation, speziell in der Zeit der Pubertät. "Da entscheidet sich, ob Athleten und Athletinnen dranbleiben oder nicht", sagt Dull. Insbesondere junge Frauen beginnen früh, ihre Leistungen zu hinterfragen, Anna Lechner hat sich für den Sport entschieden und in diesem Jahr enorme Fortschritte gemacht. Nur physisch gebe es noch Potential, so Dull: "Aber es wäre ja schade, wenn wir schon alles hätten."

Anna Lechner bezeichnet sich selbst als "intuitive Kletterin", die in den Boulder einsteigt und den Fels fühlt, der darf gerne "kompliziert zu lesen sein". Zudem liegt ihr alles Dynamische und Koordinative, besonders Sprünge und Platten. Sie nennt das "New School Bouldern", ein neuer Boulderstil, der zunehmend auf spektakuläre Action an der Wand setzt. Ihre Vorliebe für diesen Kletterstil sei auch ein Grund, warum sie im Leadklettern, also dem Klettern im Vorstieg am Seil, nicht so stark ist: "Dieses nur Festhalten, das taugt mir nicht so." Als reine Boulderspezialistin könnte daher Olympia 2024 in Paris noch zu früh für sie kommen, wenn Bouldern und Lead gemeinsam gewertet werden und Speed einzeln. 2028 in Los Angeles könnte ihre Zeit gekommen sein, derzeit wird diskutiert, alle drei Disziplinen einzeln zu werten: "Das ist mehr meine Welt."

Lechner ist "klassisch über ihren Vater zum Klettern gekommen", der sie mit fünf Jahren mit in die Halle genommen habe. Er sei viel in den Bergen unterwegs und wollte seine Leidenschaft an die Kinder weitergeben. Das hat er auch bei ihrer großen Schwester erreicht, die ebenfalls Wettkämpfe klettert, aber nicht so "leistungsorientiert", wie Anna Lechner sagt. Ihr Weg führte sie über Klettertrainings im Alter von sechs Jahren bis in den Nationalkader. Erst in diesem Jahr hat sie sich vollends auf das Bouldern spezialisiert, Grund sei die komplizierte Nachwuchsförderung, weshalb sie in den ersten Jahren alle drei Disziplinen trainieren musste.

Und wie es nun nach der Schule weitergeht? "Ich konzentriere mich jetzt aufs Klettern und gucke, wo ich mit viel Training hinkomme", sagt Lechner. Ein Jahr gibt sie sich dafür Zeit, die Uni sei trotzdem gesetzt: "Klettern ist noch nicht ein so großer Sport", um davon leben zu können. Das gelänge nur wirklich sehr wenigen Leuten. Nun steht erst einmal das Weltcup-Debüt im kommenden Jahr an, ihr Opa kann es kaum erwarten.

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