Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmund:Es zieht sich wie Kaugummi

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Von Ulrich Hartmann, Leverkusen

Astronauten und Fußballtrainer haben mehr gemeinsam, als man denkt. Wenn die Schwerelosigkeit ihnen die Orientierung raubt, dann leiden Raumfahrer an der Raumkrankheit. Schon beim Training mit Parabelflügen kann das auftreten, beim Rauf und Runter mit dem Flugzeug zur Aufhebung der Schwerkraft. Solch ein Rauf und Runter kennt auch Peter Bosz, der Fußballtrainer. Seine Mannschaft, Borussia Dortmund, befindet sich im Rahmen eines tabellarischen Parabelflugs derzeit im Sturzflug. Die daraus resultierende Schwerelosigkeit raubt den Beteiligten die Orientierung. Nach dem 1:1 in Leverkusen ist Bosz gefragt worden, ob dieser Punktgewinn ein Schritt nach vorne war oder nach hinten, aber der Niederländer wusste keine plausible Antwort. Er leidet selbst an einer Art Raumkrankheit und antwortete: "Das sollen andere entscheiden, ob das ein Schritt nach vorne, nach hinten, nach oben oder nach unten war."

Was das angeht, muss er sich keine Sorgen machen. Schon bald werden andere entscheiden, ob Bosz sich weiterhin als leitender Astronaut im schwarz-gelben Universum eignet. Binnen neun Wochen haben die Dortmunder zuletzt bloß ihr Pokalspiel beim Drittligisten Magdeburg gewonnen; in zehn weiteren Pflichtspielen in Bundesliga und Champions League gab es keinen Sieg. Drei Punkte durch drei Unentschieden haben den BVB in der Tabelle vom ersten auf den sechsten Platz abrutschen lassen. Aber es kommt noch schlimmer: Bevor das Team am Mittwoch ein international beachtetes Prestigespiel bei Real Madrid bestreitet sowie am Samstag ein zum Erfolg verdammendes Heimspiel gegen Bremen, gehen dem BVB weitere relevante Mitglieder der Besatzung aus. In Leverkusen zog sich der Stürmer Maximilian Philipp ohne Fremdeinwirkung nach nur vier Minuten eine womöglich kapitale Knieverletzung zu sowie der Mittelfeldmann Gonzalo Castro mit brutaler Fremdeinwirkung durch den Leverkusener Wendell eine vielleicht nicht ganz so schlimme Verletzung im Sprunggelenk. Vor allem Philipps wohl länger dauernder Ausfall reduziert Boszs Optionen in der Offensive bis Weihnachten auf ein Minimum. In Mario Götze und Marco Reus fallen bereits zwei bedeutsame Angreifer aus.

Als Entschuldigung wird man dem Trainer diesen Wettbewerbsnachteil kaum gutschreiben, sollte das Heimspiel gegen Bremen nicht gewonnen werden. Die Partie in Madrid zuvor ist statistisch bedeutungslos, weil es für Dortmund in der Champions-League-Gruppe ohnehin auf den dritten Platz hinausläuft und damit auf die Qualifikation für die minderwertigere Europa League. Im Bernabéu-Stadion wird sich am Mittwoch aber erkennen lassen, wie viel Leidenschaft noch in dieser Mannschaft steckt, bevor es drei Tage später ultimativ um den Job des Trainers geht. Bis dahin darf er die Mannschaft weiter begleiten. "Wir wollen den Turnaround mit Peter Bosz schaffen", sagte am Wochenende der Sportdirektor Michael Zorc und beteuerte, keinen Kontakt zu anderen Trainern aufgenommen zu haben. Durchgesickert ist jedoch bereits, dass der gute Wille der Geschäftsleitung einen herben Schlag erleiden dürfte, sollte gegen Bremen nicht gewonnen werden.

Die Sympathien für Bosz in Vorstand und Mannschaft sind nach wie vor groß. Man muss nur beobachten, wie der Niederländer in diesen Wochen in der Öffentlichkeit auftritt, wie er geduldig jede Frage nach seiner drohenden Ablösung beantwortet und im Gegensatz zu anderen Trainern nicht ein einziges Mal ausfallend geworden ist, keine Wutrede gehalten und nie die Stimme erhoben hat. Bosz ist die Ruhe in Person, und Skeptiker unken, dies sei womöglich sein größtes Problem im Umgang mit der müden Mannschaft. "Wir brauchen ein Erfolgserlebnis", sagt Bosz seit Wochen in großväterlichem Duktus - "wir brauchen einen Sieg", präzisierte er nach dem Unentschieden in Leverkusen.

Ob der Trainer im Laufe der vergangenen Woche wirklich "alles auf den Prüfstand gestellt und jeden Stein umgedreht" hatte, wie es ihm der Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke in aller Öffentlichkeit auf der Mitgliederversammlung auftrug, ließ sich am Gastspiel in Leverkusen nicht ablesen. Die erste Halbzeit war ernüchternd, und hätte Wendell dem Dortmunder Castro nicht das Sprunggelenk umgetreten und dem BVB durch seinen Platzverweis eine 49-minütige Überzahl beschert, wäre womöglich nicht einmal dieses Unentschieden herausgekommen. "In der zweiten Halbzeit haben wir Mentalität gezeigt", lobte Bosz, aber es wäre ein wichtigeres Signal an die nachdenkliche Geschäftsleitung gewesen, hätte die Mannschaft diese Mentalität nicht erst nach dem 0:1-Rückstand und in einer Überzahl demonstriert.

So zieht sich die Ungewissheit in Dortmund weiter wie Kaugummi, weil im Nirgendwo zwischen Zusammenbruch und befreiender Explosion ein Vakuum entstanden ist, eine Schwerelosigkeit, die dem BVB die Raumkrankheit eingebrockt hat. Spätestens am Wochenende wird die Gravitation aber erneut einsetzen. Dann steht Bosz wieder auf dem Boden der Tatsachen - so oder so.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2017
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