Süddeutsche Zeitung

Fußball-EM:De Bruyne, das Rennpferd

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Der 25-Jährige musste zuletzt Kritik einstecken - dabei ist er einer der wichtigsten Gründe für den Einzug der Belgier ins EM-Viertelfinale. Seine Skeptiker werden von der Datenbank widerlegt.

Von Ulrich Hartmann, Marseille/Lille

Es gibt bei dieser Europameisterschaft noch kein Lied über Kevin de Bruyne. Wahrscheinlich ist sein Name zu sperrig für einen Refrain, auf jeden Fall klingt er nicht so schick wie der von Eden Hazard. Über Hazard singt die Brüsseler Punkband Keeper Volant in schaurig-schrägem Französisch: "Der beste aller Fußballer, ein Spieler mit Herz, Mann, wie der sich bewegt." Hazard hat zuletzt drei Tage mit dem Training pausiert, im schlimmstern Fall fehlt er an diesem Freitag, wenn Belgien im Viertelfinale gegen Wales spielt. De Bruyne müsste dann vieles alleine richten. Vielleicht schreibt hinterher dann mal jemand einen Song über ihn.

Man hat zuletzt nicht viel Gutes gelesen über die Form des 25-jährigen Belgiers. Anfang des Jahres hatte er wegen einer Knieverletzung zwei Monate lang pausiert, im März ist er erstmals Vater geworden. "Sein Leben hat sich verändert, und vielleicht ist er nach einer langen Saison bei Manchester City auch ein bisschen müde", hat sein Nationaltrainer Marc Wilmots über ihn gesagt.

Das "EM-Form-Barometer" führt Kevin De Bruyne auf Platz eins

Mit solchen Sätzen leistet man öffentlicher Kritik Vorschub, aber es ist ohnehin erkennbar, wie viel kritischer so ein Fußballer beurteilt wird, der vor einem Jahr für 76 Millionen Euro vom VfL Wolfsburg zu Manchester City gewechselt ist. Bei einer Flasche Romanée Conti für 12 000 Euro ist man vielleicht auch enttäuscht, wenn man erwartungsvoll am Glas schlürft und dann feststellt: ist ja nur Rotwein.

Das sogenannte "EM-Form-Barometer" des europäischen Fußballverbands Uefa schert sich nicht um Emotionen und Ablösesummen. Es summiert sämtliche erfassten Daten eines Spielers bei dieser EM positionsspezifisch - Laufleistung, Balleroberungen, geblockte Schüsse, erfolgreiche Pässe, Flanken, Torschüsse, Torvorlagen, Treffer, je nachdem. In dieser objektiven Rangliste, die nach jedem Spiel aktualisiert wird, stand De Bruyne bis zum Beginn des Viertelfinals von allen, ursprünglich 552 EM-Spielern aus 24 Nationen auf Platz eins - vor dem Franzosen Dimitri Payet, Eden Hazard, dem Waliser Gareth Bale und dem Deutschen Toni Kroos. Die Datenbank entgegnet allen Skeptikern: De Bruyne ist in herausragender Form.

Im Achtelfinale gegen Ungarn, als die zuvor schwankungsanfälligen Belgier die Branche mit einem spektakulären 4:0-Sieg an ihre Mitfavoritenrolle erinnerten, hat De Bruyne zehn Flanken vors Tor geschlagen, vier Chancen eröffnet, fünf Mal aufs Tor geschossen, einen Treffer vorbereitet und einen Freistoß an die Latte geknallt. Trotzdem gibt es immer noch Analysten, die nur kurz auf die Scorerliste dieser EM schauen, De Bruyne nicht zuoberst erspähen, bei ihm binnen vier Spielen keinen Treffer und bloß zwei Torvorlagen entdecken und dann öffentlich fragen: Was ist nur mit De Bruyne los?

Bei De Bruyne, 25, geht eben alles ein bisschen schneller, nicht nur auf dem Platz. Auch das öffentliche Hochjubeln und Niedermachen hat er bereits hinter sich. Er spielt schon bei seinem sechsten Verein, und bereits vor zwei Jahren, da war er gerade 23, hat ein belgischer Journalist eine Biografie über ihn geschrieben. "Keep it simple" heißt das Buch, und der Titel muss sich irgendwie auch auf die Erwartungen des Lesers beziehen. Denn sehr tief schürft so ein Buch über einen 23 Jahre alten introvertierten Fußballer nicht. Das ist Literatur für Fans.

Klaus Allofs ist so ein Fan. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der deutsche Fußballmanager De Bruyne zwei Mal in die Bundesliga gelotst hat, erst 2012 für ein Jahr zu Werder Bremen, dann 2014 für eineinhalb Jahre zum VfL Wolfsburg. Allofs war früher ein sehr guter Fußballer und betreut privat recht erfolgreich einige Rennpferde. In De Bruyne hat er damals einen Jungen entdeckt, der beides vereint: den herausragenden Fußballer mit dem Tempo eines Rennpferds.

In Bremen hat De Bruyne in der Saison 2012/13 den internationalen Durchbruch geschafft, in Wolfsburg hat er 2014/15 seine bislang beste Saison gespielt, mit zehn Toren und 21 Torvorlagen in 34 Bundesliga-Spielen. 21 Assists sind ein wirklich famoser Wert. Nach der Saison wurde er zu Deutschlands "Fußballer des Jahres" gekürt. Ohne De Bruyne brach Wolfsburg in der darauffolgenden Saison ein.

Der junge Fußballprofi De Bruyne war da längst für eine Fantasiesumme nach Manchester umgesiedelt. Nach einem derartigen Transfer kann ein Spieler die Erwartungen eigentlich nur noch enttäuschen, es sei denn, er schießt in jedem Spiel ein Tor. De Bruyne hat in 25 Premier-League-Spielen dann sieben Tore und neun Assists geliefert. Ein mittelprächtiger Wert.

"Wir wollen ins Finale", sagt De Bruyne

Am 27. Januar blieb er ausgangs eines 3:1-Sieges im Ligapokal gegen Everton mit den Stollen im Rasen hängen und verdrehte sich das Knie. Danach pausierte er zwei Monate lang, sein EM-Start geriet in Gefahr. De Bruyne war zum ersten Mal in seiner Karriere an einem kritischen Punkt angelangt, und die EM, die zeigen sollte, wie es jetzt um ihn steht, begann mit einer 0:2-Niederlage gegen Italien. De Bruyne absorbierte den Großteil der Kritik. "Ich werde ihn jetzt nicht öffentlich schlachten", sagte Marc Wilmots.

Der Trainer hat gut daran getan, denn De Bruyne hat die belgische Mannschaft anschließend zu einem 3:0 gegen Irland, einem 1:0 gegen Schweden und zu dem 4:0 gegen Ungarn geführt. Schneller als diese Belgier spielt keine EM-Mannschaft. Vielleicht gelingt De Bruyne momentan noch nicht alles, vielleicht findet er sich nach Ballverlusten nicht immer schnell genug in der Defensive ein, vielleicht fehlen seinen Flanken und Schüssen die letzte Präzision - aber die Leidenschaft, mit der er sich in die Spiele hineinfräst, ist bemerkenswert und für den belgischen Erfolg maßgeblich.

De Bruyne sagt vor dem Spiel gegen Wales: "Wir wollen ins Finale", und wer denkt, die Geburt seines Sohnes Mason Milian im März habe ihn aus seinem fußballerischen Gleichgewicht gebracht, der liegt wohl falsch. Bei Twitter hat De Bruyne das Foto eines kleinen, properen Burschen im Belgien-Trikot eingestellt und darunter geschrieben: "Mein größter Fan - er gibt mir die Kraft." Wer solch niedliche Anhänger hat, der braucht vielleicht gar keine gesungenen Widmungen.

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SZ vom 01.07.2016
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