Süddeutsche Zeitung

Bayer Leverkusen:Julian Brandt, der Geheimtipp für Löw

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Von Ulrich Hartmann, Köln

Kurz nach dem Sieg in Köln trat ein Leverkusener Vereinsrepräsentant vor die Presse. Er lobte in eloquenter Manier die Mannschaft, er lobte ihre Einstellung, er erklärte die direkte Champions-League-Qualifikation zum Saisonziel und äußerte sich gnädig über den brasilianischen Abwehrspieler Wendell, der nach einem Handgemenge in der Nachspielzeit die gelb-rote Karte erhalten hatte. "Wendell ist ein kleiner Heißsporn, aber er ist noch jung und lernt dazu." Dann hielt der Repräsentant von Bayer 04 kurz inne und schüttelte grinsend das Haupt. "Oh Mann, ich höre mich gerade an wie ein Dreißigjähriger", sagte der Stürmer Julian Brandt, 19.

"Der Knoten ist nicht nur bei mir geplatzt"

Ja, der Junge spricht wie ein Dreißigjähriger, aber in den vergangenen Wochen hat er eine mental vergreisende Elf mit seinem bubenhaften Charme entscheiden erfrischt. "Der Knoten ist nicht nur bei mir geplatzt", bilanzierte er im Stile eines Routiniers, "sondern auch bei der Mannschaft."

Vor fünf Wochen, an einem Samstag um 16.45 Uhr in Augsburg, war die Bundesliga-Saison für Leverkusen im Grunde bereits erledigt gewesen. Die Bayer-Fußballer hatten zuvor drei Spiele nacheinander verloren, ihr Trainer Roger Schmidt war vom Deutschen Fußball-Bund mit einer Drei-Spiele-Sperre belegt worden, und im dritten dieser drei trainerlosen Spiele, an jenem Samstag in Augsburg, lagen die Leverkusener nach 60 Minuten 0:3 zurück. In diesem Moment waren sie in der Tabelle Achter, sie hatten sechs Punkte Rückstand auf die viertplatzierten Schalker und sieben Punkte auf die drittplatzierten Berliner. Es war eine aussichtslose Situation für derangierte Leverkusener.

Seit vier Partien hat Leverkusen kein Gegentor mehr bekommen

Doch dann passierte etwas, das bis heute niemand schlüssig erklären kann. Die Leverkusener erwachten aus einer Art Trance. Das Ende dieser Trance lässt sich ziemlich gut auf den 5. März um 16.45 Uhr datieren, denn in der letzten halben Stunde dieses Spiels glichen Karim Bellarabi, der Augsburger Paul Verhaegh per Eigentor und Hakan Calhanoglu mit einem Elfmeter in der 93. Minute noch zum 3:3 aus. Die darauf folgenden vier Bundesligaspiele gewannen die Leverkusener - 1:0, 2:0, 3:0 und 2:0, gegen Hamburg, Stuttgart, Wolfsburg und nun eben in Köln.

Seit jenem Spätnachmittag am 5. März haben sie in der Bundesliga kein einziges Gegentor mehr bekommen und binnen sechseinhalb Stunden Fußball immerhin elf Tore geschossen. In der Tabelle sind sie jetzt Vierter und haben nur noch einen Punkt Rückstand auf die drittplatzierten Berliner. Was für ein Comeback.

Zur Erklärung komplexer und vielleicht sogar unerklärlicher Phänomene muss man sich mitunter des Stilmittels der Vereinfachung bedienen, und wenn man dies auf Bayer Leverkusen anwendet, dann darf man wohl tatsächlich behaupten: Der junge Julian Brandt hat seine Mannschaft aus der Tristesse befreit.

Brandt war wochenlang Ersatzspieler, galt manchem in seiner dritten Saison in Leverkusen schon als schlampiges Dauertalent, doch seit wenigen Wochen zeigt er verlässlich sein ganzes Können. Binnen fünf Spielen hat er drei Tore vorbereitet und drei Tore geschossen. In den vergangenen drei Partien hat er jeweils die 1:0-Führung für Bayer erzielt. Auch am Sonntag in Köln schoss er erst das 1:0 und leitete kurz darauf den Spielzug zum 2:0 ansehnlich ein.

"Vielleicht habe ich der Mannschaft mit meinen 1:0-Treffern Ruhe und Selbstbewusstsein geben können", sagte er und klang schon wieder nicht wie ein 19-Jähriger. Aber für seine erstaunliche Reife gibt es wahrscheinlich einen Grund: Brandt wird am 2. Mai bereits 20.

Schon gilt der fröhliche Bursche, der einst vom Bremer Klub FC Oberneuland über den VfL Wolfsburg Anfang 2014 zu Bayer Leverkusen kam, als Geheimtipp für Joachim Löws Europameisterschafts-Kader. Für Horst Hrubeschs Olympia-Mannschaft wäre Brandt in seiner derzeitigen Verfassung wohl ohnehin gesetzt, aber womöglich hätte Löw ihn als juveniles Überraschungs-Element sogar gerne im A-Team dabei.

Brandt hat Admir Mehmedi und Hakan Calhanoglu auf die Bank verdrängt

Zu solchen Gedankenspielen äußert sich Brandt lieber sehr zurückhaltend, genauso wie sein Trainer Roger Schmidt. "Bevor die Nationalmannschaft ein Thema werden könnte, müsste Julian erst mal konstant auf diesem Niveau weiter spielen", sagt Schmidt und verweist überdies auf die vielen guten deutschen Flügelstürmer.Tatsächlich müsste sich Brandt momentan irgendwo hinter Thomas Müller, Marco Reus, André Schürrle, Leroy Sané, Kevin Volland und seinem Bayer-Kollegen Karim Bellarabi einreihen. Selbst Lukas Podolski scheint derzeit noch einen Bonus zu besitzen. "Auf Julians Position ist die Konkurrenzsituation ziemlich hoch", sagt Schmidt.

Aber solche Herausforderungen schrecken Brandt nicht. Im Klub hat er Admir Mehmedi auf die Bank und Hakan Calhanoglu in eine defensivere Rolle oder auch gleich auf die Bank verdrängt. Und seit Brandt auf dem linken Flügel gesetzt ist, ist Bayer Leverkusen für Freunde wohlfeiler Wortspiele vor allem eines: brandt-gefährlich.

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Quelle:
SZ vom 12.04.2016
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