Süddeutsche Zeitung

Atlético Madrid:Rache für Schwarzenbeck

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"Saúl ist ein Spektakel": Spanien ergötzt sich am Schützen des Siegtors gegen Bayern. Und erwartet, dass er die Münchner im Rückspiel vor titanische Aufgaben stellt.

Von Javier Cáceres

Saúl Ñíguez ist erst 21 Jahre alt. Doch seinen Platz in der Geschichte von Atlético Madrid hat er schon jetzt sicher. Neun Sekunden lang dauerte das spektakuläre Dribbling, das er in der 11. Minute im Estadio Vicente Calderón bot; es rief die Erinnerung an einen der größten Fußballer der Geschichte hervor, zum Beispiel im Radiosender Cadena Ser: " . . . Tor von Maradona!!! . . .Pardon, von Saúl Níguez!!!!", rief der Kommentator wimmernd, als er den Treffer schilderte, bei dem der Spanier gleich vier Bayern ausgetanzt hatte, und auch die Gazetten waren am Donnerstag voller Reminiszenzen an Argentiniens Nummer 10 schlechthin.

"Von welchem Planeten stammst Du?", rezitierte die Zeitung Marca am Donnerstag den legendären Radiokommentar, den Víctor Hugo Morales 1986 in den Äther schickte, als Diego Armando Maradona sich bei der WM in Mexiko den Ball an den linken Fuß schnürte und die Engländer zu Boden warf. Nur Saúl selbst war nicht aus der Ruhe zu bringen. "Die Wahrheit ist: Es war ein schönes Tor", sagte er, widmete es seiner Familie und ging.

In der Tat: Es war ein auserwähltes Tor, es wird so manche Videothek schmücken. Und doch war es mehr als das: Es war die Rache für den traumatischen Treffer des FC Bayern aus dem Europapokalfinale von 1974, der Atlético um den Henkelpott brachte, "das symbolische Gegengewicht zum Tor von (Hans-Georg) Schwarzenbeck" aus jenem Endspiel, wie ein Kolumnist der Zeitung El País schrieb. Nicht, dass das Finale von Mailand schon erreicht wäre nach Atléticos 1:0-Sieg vom Mittwoch gegen Bayern, nach dem Sieg gegen den Dämon aus dem 42 Jahre währenden Albtraum. Aber schon jetzt herrscht Freude darüber, dass die Deutschen titanische Artikulationsübungen bewältigen müssen. "Es hat uns viel Mühe gekostet, diesen verdammten Nachnamen auszusprechen", schrieb El País in Anspielung auf Schwarzenbeck - ein Name, an dem ganze Generationen spanischer Zungen zerbrochen sind. "Nun sind sie dran, Ñiguez Esclápez zu buchstabieren."

Saúl ist wie Kapitän Gabi, Koke, Fernando Torres oder der eingewechselte Thomas vom Fleische Atléticos, ein Absolvent der Nachwuchsakademie, die der verrückteste aller Präsidenten, die Atlético je hatte, Jesús Gil, einst für kurze Zeit abschaffte, weil er meinte, es sei billiger, ein Team zusammenzukaufen. Zu den Spielern, die damals als Jugendliche ins Exil geschickt wurden, zählte seinerzeit ein gewisser Raúl González Blanco, er wuchs dann eben bei Real Madrid zur Legende heran. Saúl ging den umgekehrten Weg. Er war als Elfjähriger in der Jugend von Real Madrid gelandet, doch dort wurde er zum Mobbing-Opfer: "Sie klauten mir die Schuhe und das Essen. Einmal durfte ich zwei Wochen lang das Vereinsgelände nicht betreten, wegen etwas, wofür ich gar nicht verantwortlich war", erzählte er jüngst in einem Interview. Saúl wechselte als Zwölfjähriger zu Atlético, heute stellt er fest: "Ich wusste, dass es nicht das Ende der Welt war, Real Madrid zu verlassen. Denn ich wusste, dass ich, egal wo, triumphieren würde."

Bei Atlético debütierte er mit 17 im Profiteam, bei einer Partie gegen Besiktas Istanbul wurde er zum jüngsten Champions-League-Spieler der Klubgeschichte. Einen entscheidenden Schritt nach vorne machte er in seiner Entwicklung, als er dann ein Jahr lang zur Leihe bei Rayo Vallecano spielte. Zuvor hatte ihm Atlético-Trainer Simeone eröffnet, dass er nicht die Spielzeit bekommen würde, die sein Talent verdiene.

Bei Rayo wurde Saúl zu jenem "todocampista", zum vielseitig verwendbaren "Ganzfeldspieler", als den ihn Simeone heute rühmt. Saúl gilt eher als torgefährlicher, offensiver Mittelfeldspieler, bei Rayo wurde er aber auf nahezu allen Positionen verwendet, sogar in der Innenverteidigung brillierte er. "Spaniens Fußball hat wieder ein großes Talent", sagte Bayerns Trainer Pep Guardiola am Mittwoch nach dem 0:1 -und bat, den Jungen nicht mit dem Vergleich mit Lionel Messi zu belasten. Außer Frage steht, dass Saúl grandios begabt ist: Der Linksfüßler verströmt Torgefahr, hat ein gutes Kopfballspiel, ist technisch stark, aggressiv - und aufopferungsvoll wie seine Kameraden. Mit 111,2 Kilometern steht Saúl im Champions-League-Ranking der laufstärksten Spieler an Platz fünf - vor Rechtsverteidiger Juanfran (106,3) und hinter seinen Atlético-Kollegen Gabi (122,9), Griezmann (117,8) und Koke (114,6). Gäbe es nicht Philipp Lahm (FC Bayern/111,45) und Fernandinho (Manchester City/ 111,40), die Statistik würde ausschließlich von Atlético-Profis angeführt.

"Saúl ist ein Spektakel", sagt Atléticos Stürmer Fernando Torres

Dass Saúl sich in diesem Jahr in der ersten Elf von Atlético festgebissen hat, hat viel mit dem Pech von Tiago zu tun. Dem portugiesischen Mittelfeldspieler brach das Wadenbein, dadurch wurde eine Planstelle im Heer Simeones frei. Zuvor hatte Saúl derart oft erfolglos darauf gedrängt, in der Startelf zu spielen, dass er Wechselabsichten kundgetan und eine vorzeitige Verlängerung seines bis 2020 laufenden Vertrags bisher verweigert hat.

Er wolle so viel verdienen wie Griezmann oder Koke, heißt es - fünf Millionen netto. Schon seit Teenager-Tagen weiß er um seinen Marktwert. Als er 16 war, kaufte ein Investment-Fonds namens Quality Football Ireland, der von Ronaldos Manager beraten wird, 40 Prozent an Saúls Transferrechten - für 1,5 Millionen Euro.

Der Vater José Antonio war Erstliga-Profi in Elche, seine Brüder spielen ebenfalls hochklassig: Aarón kickt bei Sporting Braga in Portugal, Jonathan beim slowenischen FC Koper. Doch sie reichen nicht an das Niveau von Saúl heran, der nun an die Tür der Nationalelf klopft. "Saúl selección!", skandierten die Fans, Nationaltrainer Vicente del Bosque vernahm es auf der Ehrentribüne. "Saúl ist ein Spektakel", sekundierte Stürmer Fernando Torres, der nach einem fantastischen Solo in der 75. Minute fast das 2:0 erzielt hätte, sein Schuss landete am Pfosten. "Wir werden in München leiden", warnte Torres. Doch das ist Atlético gewohnt.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2016
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