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Athletic Bilbao im Europa-League-Finale:Mia san Basken

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Für Athletic Bilbao dürfen seit jeher nur Basken spielen - jetzt hat der argentinische Trainer Marcelo Bielsa ein Team geformt, das in Europa sogar die ganz Großen besiegt. Der einzige Ausländer im Klub tobt an der Außenlinie, schaut Tausende von Fußballvideos und drillt seine junge Mannschaft mit ganz eigenen Methoden.

Javier Cáceres, Madrid

Das Abenteuer des skurrilen Fußball-Lehrers Marcelo Bielsa als Trainer des spanischen Erstligisten Athletic Bilbao begann mit einer dramatisch anmutenden Pinkelpause. Vor nicht mal einem Jahr, als bei Athletic der Präsidentschaftswahlkampf tobte.

Herausforderer Josu Urrutia hatte berechtigte Gründe, um den Vorsprung zu fürchten, den er sich gegenüber Amtsinhaber Fernando Garcia Macua herausgearbeitet hatte. Urrutia konnte bloß auf eine mündliche Verabredung mit Bielsa verweisen; Garcia Macua hingegen betrieb mit dem damaligen Trainer Joaquin Caparros einen harten Wahlkampf. Fast schon in Panik berief Urrutia eine Videokonferenz ein, auf der Bielsa sich in letzter Minute vor Medien und Fans um den Job bewerben sollte. Es kam fast zum Fiasko. Zunächst stand die Leitung nicht, dann meldete sich Bielsa mit der müden Stimme eines Professors aus dem Off: "Verzeihen Sie mir. Ich muss mal für ein Sekündchen auf die Toilette."

Im abgedunkelten Projektionsraum, den Urrutia in Bilbao für die Pressevertreter angemietet hatte, wurde es still. Peinlich still. Doch als Bielsa zurückgekommen war, sich an den Schreibtisch gesetzt, die Hände unterm Bauch gefaltet hatte, legte er mit seinem Vortrag den Grundstein für eines der aufregendsten Fußball-Projekte der Saison. Erst gewann Urrutia die Wahlen. Danach wurde Bielsa Trainer.

Bielsas Idee von Fußball

In den zehn Monaten, die vergangen sind, hat Bielsa, 56, in der baskischen Metropole eine mitreißende Geschichte geschrieben. Der achtmalige Meister und 24malige Pokalsieger Athletic Bilbao hat zwar die erhoffte Qualifikation für die Champions League verpasst, auch die Chance auf eine Teilnahme an der nächsten Europa-League-Runde ist bloß noch theoretischer Natur. Dafür hat sich Athletic für das spanische Pokalfinale (25. Mai gegen den FC Barcelona) sowie das diesjährige Europa-League-Finale an diesem Mittwoch in Bukarest qualifiziert.

Es ist für Athletic das erste Finale in einem kontinentalen Wettbewerb seit den Uefa-Cup-Endspielen der Saison 1976/77 gegen Juventus Turin, als Athletic das Hinspiel in Italien 0:1 verlor und das Rückspiel nur 2:1 gewann. Und sowohl für Bielsa als auch für Diego Simeone, der einst unter Bielsa Kapitän der argentinischen Nationalelf war und nun Trainer des Endspielgegners Atletico Madrid ist, bietet sich die Chance, es Luis Carniglia (Real Madrid), Helenio Herrera (Inter Mailand) und Alfredo Di Stéfano (FC Valencia) gleichzutun. Dies sind bislang die einzigen Argentinier, die als Trainer einen europäischen Klubwettbewerb gewinnen konnten.

Die Finaleinzüge haben viel damit zu tun, dass sich mit Bielsa und Athletic ein singulärer Trainer und ein singulärer Klub gefunden haben und eine grandiose Symbiose eingegangen sind. Bielsa wurde in Rosario bei Newell's Old Boys groß, "einem Klub, der sich in den achtziger und neunziger Jahren fast ausschließlich mit Spielern aus der eigenen Jugend ernährte", wie er selbst sagt.

Dass sich Bielsa in Bilbao daran erinnert fühlte, verwundert nicht. Athletic ist immer noch diese romantisch verklärte, stolze Anomalie in Zeiten der Globalisierung - ein Klub, der von jeher und auch jetzt, in der Ära internationaler Fußballer- und Finanzströme, ausschließlich Spieler baskischer Herkunft verpflichtet.

Athletic ist gewissermaßen die fußballerische Entsprechung zur Politik der baskischen Nationalisten, die sich von Spanien abgrenzen, wenn nicht gar loslösen wollen, ein Teil der Ultras sympathisiert mit dem Umfeld der allmählich dahinsiechenden Terror-Organisation Eta. Nichtbasken werden seit Beginn der Vereinsgeschichte eigentlich nur als Trainer geduldet. Der heutige Bayern-Trainer Jupp Heynckes war von 1992 bis 1994 sowie von 2001 bis 2003 ein durchaus erfolgreicher Chef. Bei Bielsa fragen sich manche jetzt, warum er erst 2011 nach Bilbao kam. Und nicht schon früher.

Bielsa warf den ewigen, britisch anmutenden Stil über den Haufen, installierte ein ballbesitz-orientiertes Spiel, sorgte für eine irrsinnige Pass-Frequenz, mechanisierte Angriffszüge, feilte an aufstrebenden Nationalspielern wie Javi Martínez, Fernando Llorente oder Iker Muniain - und erntete mit dem jüngsten Team der Liga den schlechtesten Saisonstart seit 32 Jahren. Als sich der Anhang schon in Gläubige und Nichtgläubige zu spalten drohte, stellten sich nicht nur die Resultate ein, es war auch eine unverwechselbare Handschrift zu erkennen. Die Zeitung El País verstieg sich sogar in den Zeiten der Niederlage zu verwegenen Tatsachenbehauptungen: "Bielsa-Mannschaften spielen nie schlecht."

Das ist von der Wahrheit nicht weit entfernt. Zumindest haben sie eine Haltung, die sich an der moralischen Integrität orientiert, nach der Bielsa mit fast religiösem Eifer trachtet. Das war es, was Josep Guardiola, der scheidende Trainer des FC Barcelona, in erster Linie meinte, als er von Bielsa als dem "besten Trainer der Welt" sprach: dass keine Mannschaft so aufrichtig spiele wie Athletic.

Mag Meister Real Madrid in der zu Ende gehenden Saison auch Rekord um Rekord pulverisiert haben - bei den intensivsten, wahnwitzigsten, berührendsten Spielen stand immer Athletic auf dem Feld und bot ein Spektakel der Aufopferung, war stets dem Sieg, nie der Spekulation verpflichtet. Spieler Bielsas verlieren keine Zeit, sie wälzen sich nicht am Boden. Ihre Verteidigung beruht auf Verausgabung und Physis. Auch auf diese Weise wurden Spiele wie gegen Barcelona, Schalke 04, Sporting Lissabon oder Manchester United zu Klassikern.

Nach Athletics Achtelfinal-Hinspiel ließ sich der Trainer von ManUnited, Alex Ferguson, die Statistik der Partie zeigen. Er stellte fest, dass keine andere Mannschaft in den zehn Jahren zuvor in Old Trafford eine größere Laufleistung erbracht hatte: "Das Beeindruckende war die Überzeugung, mit der sie liefen."

Seit Oktober debattieren Anhänger und Medien, ob Bielsa seinen Spielern nicht zu viel abverlangt, ob er nicht öfter rotieren müsse. Einmal holte er Ander Herrera, eine der Entdeckungen der Saison, an die Bande: "Was tut Ihnen weh?" - "Nichts, Mister." - "Dann laufen sie, Carajo!" Zu Beginn der Saison sollen sich Spieler beklagt haben, dass sie sich wegen der hohen Trainingsbelastung "am Rande des Erstickens" wähnten. Bielsa sagte: "Barcelona und Real Madrid leben nicht am Rande, sondern im Zustand des Erstickens." So wie Bielsa selbst.

Wie ein Getriebener, ein Besessener wirkt er an der Außenlinie. Sein obsessives Gebaren färbt ab. Ein Journalist zählte in einem Spiel nach, dass Bielsa in der Coaching Zone immer 13 Schritte in die eine und dann 13 Schritte in die andere Richtung gehe. Warum er sich das schöne Spiel nicht angeschaut habe, wurde Bielsa gefragt. Der antwortete, dies sei bloß Zufall gewesen. So weit reicht die Verrücktheit von "El Loco", dem Durchgeknallten, dann offenbar doch nicht.

Und überhaupt: Wer ist hier verrückt? El Loco wird Bielsa unter anderem deshalb genannt, weil er stets nur Trainingsanzüge trägt, weil er linke Ideen pflegt und trotzdem mit dem Katholizismus sympathisiert, Fiat Panda fährt, Tausende Fußballvideos schaut und sich stundenlang mit Bäckern streiten kann, die ihm die Brötchen schenken wollen, auf deren Bezahlung er besteht. Zu den skurrilsten Szenen der Saison zählt, wie er selbstgedruckte Schilder an der Ersatzbank von Athletic befestigte, auf denen "Clarisa" stand. Erst später erfuhren die völlig desorientierten Ersatzspieler, dass Bielsa den Nonnen des gleichnamigen Klosters danken wollte, die für die Mannschaft gebetet hatten.

Am Vorabend des Finales in Bukarest lehnte er im Fünfsternehotel die tausend Euro teure Präsidenten-Suite ab, die ihm der rumänische Hotelbesitzer überlassen wollte. Er bestand auf ein Einzelzimmer, wie es seinen Assistenten angeboten worden war. Und weil er nach eigenen Angaben "die antipathische Pflicht zur Ehrlichkeit" verspüre, will er erst einen Monat nach dem Finale wieder ein Wort mit dem Kollegen von Atletico Madrid, seinem früheren Schüler Diego Simeone, wechseln.

Jorge Valdano, der in den siebziger Jahren bei Newell's spielte und mit Bielsa befreundet ist, sagt: "Die einzige Verrücktheit, die ich an ihm erkennen kann, ist der Exzess an Tugenden." Er wünsche ihm, dass der Fußball ihn mit einem Pokal belohne: "Athletic hat mich mit dem Fußball versöhnt."

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SZ vom 09.05.2012
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