Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Hin und weg:Kopfsache

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Tempo 30 in Innenstädten lehnen viele Deutsche ab. Im Urlaub aber genießen sie die Langsamkeit. Was soll das?

Glosse von Joachim Becker

Der letzte weitgehend unerforschte Kontinent ist der Kopf des mobilen Menschen. Nach dem neuesten Stand der Küchenpsychologie scheint es dort eine gestresste und eine entspannte Hirnhälfte zu geben. Mit der ersteren kommen wir eher schlecht als recht durch den Alltag. Die andere ist für Brückentage, verlängerte Wochenenden und den Jahresurlaub reserviert. Wenn es noch eines empirischen Beweises für diese Persönlichkeitsspaltung bedarf, wird man beim Thema Tempolimit stets von Neuem fündig.

Eine Umfrage des Magazins Spiegel hat gerade wieder gezeigt, dass eine Mehrheit die Ausweitung von Tempo-30-Zonen auf deutschen Straßen ablehnt. Dabei haben sich inzwischen fast 400 Kommunen der Initiative "Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten" angeschlossen. Zuletzt ist überall Tempo 30 in Wohngebieten eingeführt worden, jetzt fordern die Kommunen das Recht, dieses Tempolimit auch auf Hauptverkehrsstraßen verordnen zu dürfen - "genau so, wie es die Menschen vor Ort brauchen und wollen", so die Initiatoren.

Doch der Bundesverkehrsminister legt sein Veto ein, schließlich will seine Partei ja wiedergewählt werden. Laut Spiegel beantworteten 57 Prozent die Frage, ob auf mehr Stadtstraßen als bisher Tempo 30 gelten solle, mit Nein (42 Prozent mit "Nein, auf keinen Fall"). Nun ist das Schöne an der Meinungsforschung, dass man mit der richtigen Fragestellung auch das richtige Ergebnis kriegt. Es geht also darum, welche der oben genannten Hirnhälften man trifft oder treffen will.

Im eigenen Wohnviertel will natürlich jeder Tempo 30 einführen

Leute, die sich hierzulande gegen Tempolimits aussprechen, akzeptieren im Urlaub völlig selbstverständlich, dass etwa die Mittelmeerländer ihre Innenstädte für Autos dichtmachen und das Tempo überall runterdimmen. Kein Problem, wenn man im Urlaubsmodus ist und nicht vom Alltagswahnsinn durch die Straßen gepeitscht wird. Wobei auch hier gilt: Im eigenen Wohnviertel will natürlich jeder Tempo 30 einführen, doch hinter dem Lenkrad als durchreisender Pendler wirken die Forderungen der Anrainer merkwürdig unangemessen. Eine Hirnhälfte, andere Hirnhälfte.

Wie gesagt: Das Vernunftwesen Mensch ist der letzte weiße Fleck auf der Landkarte. Der Physiker Michael Schreckenberg wagt trotzdem einen Deutungsversuch: "Autofahrer sind häufig nicht kooperativ, weil sie sich ganz schnell übervorteilt vorkommen", erklärt der Duisburger Stauforscher. Eine amerikanische Studie habe gezeigt, dass man beim Kolonnenfahren immer das Gefühl habe, von doppelt so vielen Autos überholt zu werden, wie man selbst überholt habe.

Es ist also wie an der Supermarktkasse: Der mobile Mensch wähnt sich allzu oft auf der Verliererseite. Deshalb wechselt er ständig die Spur, lässt andere an einer Engstelle nur ungern oder gar nicht einfädeln und ist gegen "freiheitsberaubende" Tempolimits aller Art. Dass der Verkehr in Staustädten wie München, Köln, Hamburg und Berlin mit Tempo 30 gleichmäßiger und damit letztendlich zügiger fließen könnte, wie Studien zeigen? Geschenkt! Vielleicht werden wir im nächsten Urlaub noch mal darüber nachdenken.

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