Süddeutsche Zeitung

Südtirol:Zum Freigeist

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Gut essen, philosophieren und musizieren: Im Dorf Plawenn im Vinschgau gibt es ein kurioses Kulturwirtshaus - mit einem bemerkenswerten Gastgeber.

Von Helmut Luther, Plawenn

Mit um den Bauch gebundener schwarzer Schürze steht Konrad Meßner um 9 Uhr früh in der Küche am Holzfeuerherd. Die Scheite knistern. Der Wirt hantiert mit Töpfen und Pfannen, zwischendurch serviert er den langsam eintrudelnden Gästen an einem Holztisch Espresso aus einer uralten Mokkakanne. Gleich beginnt im holzvertäfelten Saal nebenan eine Lesung. Acht Besucher nehmen um einen gemauerten Ofen Platz, um anschließend über Hannah Arendt und ihren Lehrer Karl Jaspers zu diskutieren. Ob sie noch etwas bräuchten, erkundigt sich der Wirt, er hat Gläser und eine gefüllte Wasserkaraffe auf den Tisch gestellt.

Das Ganze findet im "Ansitz Plawenn" statt, der wie ein kleines Schlösschen mit Schwalbenschwanz-Zinnen im gleichnamigen Dorf im Vinschgau steht. Meßner hat das Gebäude vor zehn Jahren gemietet und zu einem besonderen Gasthof gemacht. "Als ich hier anfing, stank die Küche nach Rauch und Fett, eine Woche lang habe ich mit Seife und Bürste geschrubbt", sagt Meßner und zeigt zum verrußten Gewölbe hinauf. An festgeschraubten Eisenstangen wurden hier früher Würste und Speck geräuchert. Noch früher diente der Raum als Kapelle.

Meßner betreibt das Gasthaus als Kulturverein und Club. Der Verein heißt "Arcus Raetia", der Club nennt sich "Club of Mult". Die Mitgliedschaft kostet einen Euro im Jahr. "Derzeit sind mehr als 1000 Leute eingeschrieben - aus 27 Ländern", sagt Konrad Meßner stolz. Der grenzüberschreitende Austausch zwischen der nahen Schweiz, Österreich und Italien ist ihm wichtig. Steuerlich bedeute sein Club-Betriebsmodell eher einen Nachteil, erklärt der Wirt. "Ich möchte jetzt nicht Hygienebestimmungen schlechtreden, jedoch dürfte ich hier mit normaler Gasthauslizenz beispielsweise nicht auf einem Holzherd kochen", sagt er. Meßner neigt nicht zu übertriebener Freundlichkeit. Seine Gäste könne er sich nicht aussuchen, sagt er mit einem Schulterzucken. Grundsätzlich jedoch gelte: "Jeder, der mich findet, ist richtig."

Als "Hofnarr, Philosoph, schräger Vogel" werde er beschrieben, "das bin ich aber alles nicht", erklärt Meßner. "Mein Vermieter nennt mich seinen Kastellan. Klingt ganz nett, aber ich lasse mich ungern in eine Schublade stecken." Selbst sieht sich der Mittsechziger als Freigeist. Er hat als Regionalentwickler etliche Projekte umgesetzt. So war er etwa die treibende Kraft, als es darum ging, im Vinschgau, wo Apfel-Monokulturen dominieren, wieder wie früher Roggen und Dinkel anzubauen. Er hat aus vielen Ländern altes Saatgut gesammelt, das er hier einsetzt und vermehrt. "Jetzt, in meinem dritten Lebensabschnitt, bin ich Kultur-Wirt. Die Leute sollen bei mir gut essen und dabei ins Gespräch kommen. Der Austausch ist das Wesentliche, alles Abgehobene interessiert mich nicht."

Warum gerade in Plawenn, wo es weder Hotels noch andere Gasthäuser gibt und das deshalb untypisch ist für das sehr touristische Südtirol? "Komm mit, ich zeige dir etwas!", sagt er nur und über eine steinerne Treppe geht es in das unbewohnte Untergeschoss hinab. Ausgebreitet auf einem Holzbrett trocknen dort Marillenkerne, in einem Regal lagert Schüttelbrot aus Roggenmehl, an der meterdicken Wand lehnen alte Tourenskier. Dann öffnet Meßner eine Tür mit schmiedeeisernem Schloss. Man steht nun im Garten, mit noch brachliegenden Beeten, wo Meßner im Sommer Gemüse und Kräuter anbaut. Hinter einem Zaun ragt ein Wegkreuz empor, rechts auf einer Anhöhe die freskengeschmückte Pfarrkirche mit dem Friedhof, ansonsten nur Wiesen, weit und breit kein anderes Gebäude. "Ich wohne gern weit weg vom Trubel", sagt er mit Blick auf die Landschaft. "Spazieren gehen, in Ruhe nachdenken, das ist mir wichtig." Außerdem wolle er "zu einem guten Teil als Selbstversorger leben".

Geht man um das mit einem Eckturm und den Zinnen verzierte Herrenhaus herum, stapeln sich am Hang Bauernhäuser übereinander: die Obergeschosse aus sonnenverbranntem Lärchenholz, Heustadel aus rohen Baumstämmen, windschiefe Brennholzschuppen. Über den Dächern steigen Rauchfahnen auf. Laut Gemeindeverwaltung zähle Plawenn ganzjährig 45 Einwohner, sagt Meßner. Er sei jedoch extra von Haus zu Haus gegangen und habe selber gezählt: "Wir sind 38, auf Expansionskurs, vor einem Jahr ist ein junges Paar zugezogen."

"Ab und zu geöffnet, aber gerne auf Wunsch", steht auf der Homepage des Gasthauses

Auch Konrad Meßner ist nicht von hier, er stammt aus einem Dorf im Eisacktal. "Dies und die Tatsache, dass ich im Ort als Einziger keinen Bauernhof bewirtschafte, bedeutet, dass ich eine Sonderrolle einnehme", sagt er. Außer Meßners Gastbetrieb gibt es hier keine Einkehrmöglichkeit. Einige Dorfbewohner, ausschließlich Männer, schauten bei ihm regelmäßig auf ein Feierabendbier vorbei, erzählt der Wirt. "Mit den Frauen tausche ich Stecklinge und Ableger von Balkon- und Gartenpflanzen aus." Kein Schild weist den Weg zum Ansitz Plawenn. Meßner macht auch keine Werbung. Veranstaltungen kündigt er per SMS an. Auf der Homepage seines Kultur-Wirtshauses heißt es: "Ab und zu geöffnet, aber gerne auf Wunsch, darum Anmeldung erbeten!"

In der Stube wird an diesem Sonntag tatsächlich mit gebotenem Ernst über Hannah Arendts Totalitarismustheorie sowie den Vernunft- und Wahrheitsbegriff bei Jaspers diskutiert. Hier sitzen keine Fachleute, es geht um das Zusammensein, den Austausch zwischen Kulturinteressierten, Lehrern, Erziehern. Ein Ingenieur ist dabei, die meisten Teilnehmer wohnen im Vinschgau, zwei sind extra aus Innsbruck gekommen. Die eine, objektive, allgemeingültige Wahrheit, "die gibt es nicht", sagt Meßner, nachdem er kurz am Tisch Platz genommen hat. Die anderen nicken beifällig.

Während im holzvertäfelten Saal weiter philosophiert wird, zeigt der Wirt einen zweiten hellen Raum, der ebenfalls für Seminarzwecke genutzt wird. Das angrenzende Zimmer mit eigenem Bad kann man mieten. "Am besten für eine Auszeit, zwei, drei Monate", meint Meßner. Gegen 13 Uhr gibt es das Mittagessen, einige Teilnehmer springen kurzfristig als Kellner ein. Die Vegetarier bekommen Käseknödel, die anderen deftige Leberknödel mit Sauerkraut. Gestern habe er hier zusammen mit einem Bauern ein Schwein geschlachtet, erzählt Meßner. "Wer Fleisch isst, soll auch schlachten." Nach Kaffee und Apfelstrudel greift der Referent zur Gitarre und stimmt ein Lied an. So eifrig, wie vor dem Essen diskutiert wurde, wird nun gesungen, sogar mehrstimmig.

Wie lange das heute noch gehen wird? "Manchmal bleiben sie auch zum Abendessen", sagt der Wirt, man wisse das nie so genau. Heute allerdings werde er zu einem Besen greifen und die Leute rauskehren müssen. "Es kommt nämlich noch der Bauer, mit ihm will ich das restliche Schwein zu Wurst verarbeiten."

Informationen zum Kulturwirtshaus: raetia.net/club-of-mult/

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