Süddeutsche Zeitung

Menorca:Vom Winde verdreht

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Auf den Balearen stehen Bäume, die tief in der Geschichte der Inseln verwurzelt sind. Eigentlich sind sie geschützt - aber niemand kümmert sich um sie.

Von Brigitte Kramer

Die Taubeninsel vor Menorcas Nordküste ist übersichtlich: flaches Buschland, Wiesen, ein alter Hof, zwei Sandstrände, ein Tamariskenwäldchen. "Hier muss er sein", sagt Jesús González, während er sich barfuß zwischen den verwachsenen, strauchigen Bäumen durchschlängelt. In der Hand hält er sein Handy, auf dem Bildschirm das Foto einer Tamariske mit knotigem, niedrigem Stamm und kreuz und quer wachsenden Ästen. "Zustand gut", liest er und lacht, "so wie das hier aussieht? Man findet ja nicht mal die Plakette."

Die knorrige Tamariske gehört zu den mehr als 70 Bäumen und Baumgruppen, die die balearische Landesregierung in den Neunzigerjahren unter Schutz gestellt hat. 16 davon stehen auf Menorca. Hier sind sie besonders bewundernswert, denn die nördlichste der vier Inseln ist sehr flach. Viele Tage im Jahr bläst der Tramontanawind aus dem Norden. Da sind ein aufrechter Stamm und eine Höhe von zehn Metern schon eine Leistung.

Die Bäume wachsen an Wegkreuzungen, in Klosterhöfen, im Wald. Manche überragen ihr Umfeld, andere entfalten sich in der Breite. Alle erzählen von der Geschichte, vom Klima und von den Menschen des Archipels. Und sie erzählen vom Verhältnis, das die Inselbewohner offenbar zur Natur haben: Die Bäume werden nicht gepflegt, die Informationen und Beschreibungen sind 25 Jahre alt und niemand weiß, wie viele es sind. Manche sind im "Catàleg d'Arbres Singulars" noch gelistet, obwohl sie schon abgestorben sind.

Die Umweltbehörde der Balearen hat andere Probleme: Plastikmüll und schlecht geklärtes Abwasser trüben das Meer in der Bucht von Palma, vor Ibiza und Formentera reißen die Anker von Yachten immer wieder riesige Löcher in die Posidonia-Wiesen, an den Stränden stauen sich die Autos. Wer denkt da schon an alte Bäume, die einfach nur dastehen, meistens im Hinterland, und scheinbar nichts brauchen? Wer sieht sie überhaupt? Die Touristen wohl nicht, denn niemand macht sie auf dieses Naturerbe aufmerksam.

Der Katalog umfasst bis zu 600 Jahre alte Steineichen und Ölbäume, deren Stamm neun Meter Durchmesser hat. Auch 100-jährige Pinien kann man besuchen, die den Namen längst verstorbener Menschen tragen, die sie gepflanzt haben. Und Feigenbäume auf Formentera: Die unteren, weit ausladenden Äste liegen auf mannshohen Pflöcken, damit Hirten und ihre Schafherden im Schatten darunter ruhen können. Es gibt Echte Dattelpalmen, die schon die Araber neben ihre Höfe gepflanzt haben, als weithin sichtbares Zeichen der Gastfreundschaft, und in die Höhe geschossene Myrten und Eiben, die man vor allem als Ziersträucher kennt. Vor Mallorcas Landgütern wachsen oft stattliche Zürgelbäume. Ihre runden, dichten Kronen sollen Schatten spenden und Wohlstand verkünden. Und auf Menorca gibt es vier Pekannussbäume, die eigentlich in den Südstaaten der USA zu Hause sind.

Jesús González ist einer der wenigen Einheimischen, die den Bäumen Beachtung schenken. Der 50-jährige Frührentner verbringt die Tage gern im Freien, und so unternimmt er immer wieder Ausflüge zu einem der Bäume. Er schaut, ob sie Pilze oder Parasiten haben und berichtet der Umweltbehörde dann per Mail. "Meistens bekomme ich keine Antwort", sagt er, "aber zumindest wissen sie, dass sich noch jemand kümmert." Der ehemalige Verwaltungsangestellte ist fast täglich unterwegs, so lange er noch kann. González hat eine lebensbedrohende Krankheit. "Was soll ich zu Hause sitzen und warten, bis es schlimmer wird?", sagt er, "so kann ich mit meinem Engagement für meine Tochter wenigstens ein Vorbild sein."

Die Tamariske der Taubeninsel soll älter als 100 Jahre alt sein und ist wohl von den ehemaligen Besitzern der Insel am Strand gepflanzt worden, denn eigentlich wachsen die Bäume in Nordafrika. Inzwischen ist daraus ein niedriges Wäldchen mit etwa 50 Bäumen geworden. Man sieht es von Menorcas Nordküste aus, die nur knapp 300 Meter entfernt ist. Sie geben dem Strand seinen Namen, sichern ihn mit ihrem Wurzelwerk, und ihr struppiges Geäst schützt die Körner vor Verwehung. Camper, die mit dem Boot übersetzen, brechen gerne ein paar Äste ab, um damit ein Lagerfeuer zu machen. Das ist natürlich verboten, aber Kontrollen gibt es auf der unbewohnten Insel nur selten. So ist auch ungewiss, ob das Wäldchen noch lange erhalten bleibt: Gerade wurde die Insel für 3,2 Millionen Euro an einen amerikanisch-kubanischen Unternehmer verkauft.

Nachdem González die Plakette des Tamariskenbaumes entdeckt hat, und das Exemplar in dem Gewirr aus Stämmen und Ästen einigermaßen identifizieren konnte, fotografiert er die Szenerie und besteigt das kleine Boot eines Bekannten, der ihn übergesetzt hat. Nach zehn Minuten betritt er den Hafen von Es Grau und macht sich auf zum nächsten Ziel: Die Lazarettinsel in der Bucht vor Maó: Ein Kanarischer Drachenbaum und eine Aleppo-Kiefer stehen dort auf der Liste.

Mit dem Schiff wären es nur knapp fünf Seemeilen dorthin, aber González hat kein Schiff, er lebt von ein paar Hundert Euro im Monat. Deshalb steigt er in sein kleines Auto und fährt an der Küste entlang nach Nordosten, bis zum Anlegesteg in Es Castell, ehemals Georgetown, dem östlichsten Ort Spaniens. Die Engländer haben das Städtchen 1771 gegründet, und es ist bis heute in der Hand von britischen Residenten und Urlaubern. "Eigentlich müssten wir frühmorgens hier sein", sagt González, als er die Fähre betritt, "denn hier geht in ganz Spanien die Sonne am frühesten auf."

Doch es ist früher Nachmittag. Frachter, Kreuzfahrer und Segler sind in der sonnigen Bucht von Maó unterwegs. Sie ist so schmal und tief, dass sie seit jeher als leicht zu verteidigen galt. Die Briten, die Franzosen und die Spanier haben immer wieder um Menorca und besonders um die Hafenstadt Maó gestritten, denn sie ist ein guter Stützpunkt im westlichen Mittelmeer. Die Lazarettinsel bezeugt das: Alle Schiffe des Mittelmeers, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Spanien anlegen wollten, mussten ihre Besatzung und Passagiere erst zur vierzigtägigen Quarantäne auf der kleinen, unbewohnten Insel abliefern. Sie wurden desinfiziert, parfümiert und je nach Diagnose oder Verdacht in einen der vier Bereiche des Lazaretts verteilt, getrennt nach Gelbfieber, Pest, Cholera oder Malaria. Höfe und Grünflächen waren durch hohe Mauern voneinander getrennt. Ein kleiner Friedhof, vergitterte Fenster, enge Gänge und Gräben verleihen dem Inselchen etwas Düsteres, obwohl es mitten im blauen Mittelmeer liegt und die Seeluft mild ist. Eben deshalb war die Insel lange wichtig. Das Lazarett tat seinen Dienst, solange die Miasmen-Theorie herrschte: Man dachte, frische Luft schütze vor ansteckenden Krankheiten, die sich durch stinkende Dünste verbreiten.

Die zwei geschützten Bäume auf der Lazarettinsel haben nicht miterlebt, wie Scharen von italienischen, algerischen oder griechischen Seeleuten, Kapitänen und Reisenden zwischen den Mauern umhergingen und sich 40 Tage lang langweilten, wenn sie nicht schweißgebadet auf Feldbetten lagen und mit dem Tod rangen. Die Bäume sind jünger und haben einen eher banalen Ursprung: Schulklassen aus Menorca besuchten ab den 1920er-Jahren die Insel und pflanzten sie dort. Eine vertrauensfördernde Maßnahme. Selbst nachdem das Lazarett dem spanischen Gesundheitsministerium übergeben worden war und dort Angestellte Urlaub machen konnten, verbanden die Einheimischen mit der Lazarettinsel noch immer die Angst vor Fremden und ansteckenden Krankheiten.

González war zuletzt als Kind hier. "Die Lazarettinsel hat bei uns einfach einen schlechten Ruf", sagt er, während er nach den beiden Bäumen sucht. Sie stehen auf einer der abgegrenzten Grünflächen vor dem Hauptgebäude. Der rund fünf Meter hohe, gedrungene Kanarische Drachenbaum hat eine dichte und runde Krone. Seine schmalen, spitzen Blätter erinnern an Aloe Vera. Er ist in Nordafrika und auf den südlich der Kanaren liegenden Makaronesischen Inseln beheimatet. Die Aleppo-Kiefer fällt vor allem wegen ihres Duftes auf. Das Harz, das aus ihrer rissigen Rinde tritt, verbreitet ein würziges Aroma wie von Myrrhe oder Weihrauch. Man hätte es den armen Ausgesetzten gewünscht. Der Baum ist vielleicht zehn Meter hoch, seine dicken, langen Äste bedecken aber eine Fläche von mehr als 20 Metern. Die Kiefer ist stattlich, aber schief gewachsen. Man sieht, woher hier der Wind bläst.

Dass es auf der windigen Insel überhaupt so große Bäume gibt, das ist den Menschen und der Beschaffenheit der Landschaft zu verdanken. Denn viele Bäume haben sich im Schutz von Gebäuden entwickelt oder stehen in einer der Schluchten, die den Süden Menorcas zerfurchen.

Am nächsten Tag steigt Jesús González wieder ins Auto. Es ist früh am Morgen, der Himmel strahlt blau, ein Lüftchen weht. Er will zu den vier Pekannussbäumen in der Porter-Schlucht wandern, die ins gleichnamige Küstenörtchen mündet. Die Route startet hinter dem Sandstrand. Der Einstieg führt direkt in die üppige, wilde Vegetation der wasserreichen Schlucht. "Das ist der Garten Eden", sagt Jesús González, "immer, wenn ich mich schlecht fühle, komme ich hierher." Im Schatten geht es stetig leicht bergauf, bald kommt man vorbei an kleinen, weiß getünchten Höfen und an Kaki-, Apfel- und Birnbäumen. Orangen und Zitronen leuchten, Feigen und Kirschen reifen. Und nach wenigen Kilometern sieht man sie, die vielleicht höchsten Bäume der Insel: Mehr als 20 Meter ragen sie in den Himmel, schlank und kräftig.

Sie wachsen neben einem verfallenen Wasserrad, direkt am Hof der Familie Squella, einem alten Rittergeschlecht aus der Zeit der katalanischen Eroberer des 13. Jahrhunderts. Biel Squella tritt aus dem Haus, grüßt und bietet Pekannüsse an. Er sammelt sie vom Boden auf und öffnet sie geschickt mit der Hand. Sie sind klein und dunkel, erinnern an längliche Walnüsse. Gepflanzt hat die Bäume vermutlich Ende des 19. Jahrhunderts ein Mann, der genauso hieß wie der Nachkomme. Die Samen habe wohl einer der Auswanderer gebracht, die in Zentral- und Mittelamerika Geschäfte gemacht haben, erzählt er. "Heute gibt es mehr Squellas in Chile als auf Menorca."

Der 60-jährige Professor für Englisch lebt in Madrid. Sooft er kann, ist er auf Menorca. "Arbeiten ist hier schwierig", sagt er, "aber die Lebensqualität ist unschlagbar." Er ist der letzte Landbesitzer seiner Familie, die Geschwister haben ihren Teil verkauft, an Briten und Katalanen, "die sich ein Stück vom Paradies sichern wollten". Ein Gutsverwalter kümmert sich um die Obstbäume, die Früchte verkauft er in ausgesuchten Geschäften in Maó und Ciutadella. Die Nüsse bleiben aber auf der Erde liegen. Auf Menorca kenne und kaufe sie keiner, sagt Squella. "Für mich haben die Bäume eine rein emotionale Bedeutung. Sie erinnern mich daran, wer ich bin und woher ich komme."

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Quelle:
SZ vom 18.10.2018
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