Süddeutsche Zeitung

Reisebuch "Russian Fairytales":Märchen des Alltags

Lesezeit: 2 min

Frank Herfort dokumentiert in seinen Fotografien die skurrilen Seiten der russischen Realität - und spielt dabei klug mit Schein und Sein.

Rezension von Stefan Fischer

Eigentlich hätte der Elefant in ein oberes Stockwerk ziehen sollen. Aber er ist zu schwer. Also steht er nun direkt neben dem Ticketschalter des Zoologischen Museums in Moskau, nicht in der Ausstellung selbst. Als wäre er ein enger Vertrauter der Museumsdirektorin, die sich auf einem Sofa zu ihm gesellt, scheint er von dort aus ein wachsames Auge zu haben über sämtliche Vorgänge im Foyer.

Tatsächlich handelt es sich um ein Präparat, der Elefant ist ausgestopft. Aber der Fotograf Frank Herfort inszeniert die Szene so, dass man auf den ersten Blick denkt, der Elefant würde hinüberschlendern zu der Frau. Sie wiederum schaut ihn an, als wäre er ihr Haustier. "Na, wo warst du denn", scheint ihr Blick zu sagen, "was hast du wieder angestellt?" Nicht tadelnd, sondern liebevoll und in dem Wissen, ohnehin nichts ändern zu können an den eigenwilligen Streifzügen des Tieres.

Viele westliche Betrachter haben solche Szenen noch nie gesehen

"Russian Fairytales" hat Herfort seinen Bildband betitelt, russische Märchen. Denn die Fotografien erzählen fantastische Geschichten aus Russland - jedenfalls aus der Perspektive eines westlichen Betrachters: Jürgen Rink, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie, nennt Herforts Bilder in seinem Vorwort spektakulär, weil sie handwerklich perfekt seien und besonders stark wirkten, da die meisten Betrachter solche Szenen noch nie gesehen hätten.

Aber diese Szenen sind keine Erfindungen. Sie sind Teil der russischen Realität der vergangenen 20 Jahre. Zwar ist Frank Herfort kein Fotograf, der sich selbst möglichst unsichtbar macht, um im Alltag Szenen einzufangen, ohne dass Passanten ihn bemerken und sich deshalb ihre Unbefangenheit bewahren. Er arbeitet mit Stativ und Licht, er inszeniert seine Motive, seine Protagonisten wissen, dass sie fotografiert werden. Aber die Szenen entspringen alle einer tatsächlichen Beobachtung, die er für seine Bilder nachstellt.

Die Bilder regen zu kreativen Interpretationen an

Herfort, der seit vielen Jahren auch in Moskau einen Lebensmittelpunkt hat, ist ein geduldiger Beobachter. Seine Fotografien sind mehrschichtige Kondensate: Da ist der erste Eindruck, das, was man faktisch sieht. Eigentlich immer verleitet einen das dazu, bei der Fotografie hängenzubleiben. Und diese genauere Betrachtung setzt die Fantasie in Gang, aus einem Bild wird eine Geschichte. Über das Verhältnis des Elefanten und der Museumsdirektorin zueinander etwa.

Ungewöhnlich ist das Café "Two Fish" in Chabarowsk, das von orthodoxen Mönchen betrieben wird.

Am 19. Januar feiert die Ostkirche das Epiphaniasfest und gedenkt der Taufe Jesu. Wer an diesem Tag dreimal unter Wasser taucht, bleibt das ganze Jahr gesund und erfolgreich, so der Glaube.

Nach wie vor präsent im Straßenbild Russlands sind Autos der Marke Saporoshez, die bis Mitte der Neunzigerjahre in der Ukraine gebaut wurden.

Wenn man sich von den beiden verabschiedet und weiterblättert, begegnet man in öffentlichen Gebäuden immer wieder sogenannten Administratoren. Ihre genaue Funktion habe er bis heute nicht ergründen können, so Herfort. Sie geben Auskünfte, erledigen einfache Büro- und Verwaltungsaufgaben - sind aber auch entscheidungsbefugt. Dienstleister und Chef in einem. Ob der Elefant auch ein Administrator ist?

Russland befindet sich nach wie vor in einer Phase des Übergangs

Durch Herforts Bildbeschreibungen kommt schließlich eine weitere und notwendige Ebene hinzu, sie fangen die Fantasien wieder ein, ohne sie abzutöten. Aber sie verwurzeln das Gesehene in der russischen Realität: Manches an ihr mag irreal erscheinen, aber "Fairytales" zeigt dennoch kein Märchenreich. Das Land und seine Bewohner befinden sich nach wie vor in einer Phase des Übergangs, die Sowjetzeit wirkt immer noch nach, währenddessen sich die Gesellschaft radikal diversifiziert. Herfort zeigt ein großes, durchaus irritierendes Nebeneinander, das vielschichtiger ist als im alten Westen Europas. Mit Bestandteilen, die es so nur im alten Osten des Kontinents gibt, speziell in Russland.

Herfort hat in Moskau und St. Petersburg fotografiert, aber auch in der Provinz, wo es teilweise eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von vorindustriellen Zuständen und technisierter Gegenwart gibt. Vieles ist skurril in diesem Buch. Aber nichts lächerlich. Anmut und Würde sind zentrale Begriffe im Werk Frank Herforts.

Frank Herfort: Russian Fairytales. Kerber Verlag, Bielefeld 2020. 160 Seiten, 38 Euro.

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