Süddeutsche Zeitung

Italien-Bildband:Neapel im besten Licht

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Motorini, Wäscheleinen, Pizza: Die Metropole am Vesuv steckt voller Klischeemotive. Der Fotograf Giovanni Cocco weicht ihnen nicht aus, aber geht weiter - und schafft so ein sehenswertes Städteporträt.

Rezension von Irene Helmes

Es ist nur ein kleines Graffito: "THIS IS THEE LIFE. DO YOU REALLY WONT?" Doch wer auch immer es sich in bröckligem Englisch und philosophischer Stimmung abgerungen hat - es gehört zu den vielen Details, die das visuelle Flanieren durch Giovanni Coccos "Neapel" lohnen. Der Schriftzug ist in einer Straßenszene auf Procida zu entdecken, der kleinsten Insel im Golf der Metropole. Daneben radelt ein Teenager mit verspiegelter Sonnenbrille durch ein Leben, von dem Betrachter nur mutmaßen können, ob er dieses so will oder eher nicht. Und auch in den anderen Fotografien des Bildbands halten sich Konkretes und Angedeutetes raffiniert die Waage.

Im Viertel Sanità spiegeln Glasscheiben verschachtelte Häuserzeilen, Verkehr und Passanten. Ein Mädchen posiert im opulenten Kommunionkleid wie eine Königin vor den Altstadtfassaden. Eine riesige Seifenblase wabert auf der wolkenverhangenen Uferpromenade durch die Luft - man spürt förmlich, dass sie gleich platzen muss.

Cocco wechselt zwischen erhabenen Aussichtspunkten und Alltagsperspektiven. Mal lenkt er den Blick auf die abstrakte, oft morbide Schönheit der Architektur aus zwei Jahrtausenden, mal auf die atemberaubende Küstenlandschaft. Und dann wieder auf die unvermeidlichen, im Wind flatternden Wäscheleinen, auf einen Fischstand, die Motorini in den Gassen, ein Maradona-Porträt.

All das ist längst Klischee, aber eben untrennbar zu Neapel gehörig. Und der Fotograf, 1973 in den Abruzzen geboren und als Wahl-Römer nur wiederkehrender Besucher der Stadt, tut das einzig Richtige: Indem er diesen Motiven nicht ausweicht, sondern sie so zeigt, wie er sie sieht.

Cocco hat bereits Fotoserien über seine behinderte Schwester, über Burlesque-Tänzerinnen und Migranten an Europas Grenzen gemacht. Auch diesmal richtet er seine Kamera intensiv auf das Leben. Immer wieder blickt man so auf Menschen, die in ihr Tun vertieft sind, ob am Pizzaofen, am Schreibtisch oder in einer Portiersloge. Coccos Neapolitaner denken nach, shoppen, feiern und baden, sie schlendern und rennen, sie schuften, spielen und schlafen, sie küssen sich und schieben Kinderwagen.

Unsichtbar bleibt dabei, wie unvermittelt Gewirr und Chaos der Camorra-Metropole in Gewalt umschlagen können - diese neapolitanischen Abgründe finden stattdessen Erwähnung im Begleitessay von Zora del Buono, Mitgründerin des herausgebenden Mare-Verlags.

Von der Einleitung abgesehen, dürfen die Fotografien im Hauptteil für sich stehen, unerklärt, unverortet. Was man jeweils genau sieht, ist erst am Ende des Bandes in aller Kürze nachzulesen. So gelingt etwas Erfreuliches: Wer Neapel kennt, kann beim Blättern zunächst ungestört die eigene Erinnerung befragen, aus dem Betrachten ein stilles Ratespiel machen, auch Neues entdecken. Und denjenigen, die die Stadt erst noch mit eigenen Augen sehen müssen, möchte man das Buch gerne in die Hand drücken als Vorgeschmack auf die fantastische Vielfalt, die dort wartet.

Giovanni Cocco: Neapel. Mit Texten von Zora del Buono. Mare-Verlag, Hamburg 2022. 132 Seiten, 58 Euro.

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