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Ladakh in Indien:Der Himalaya gehört auch den Frauen

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Ladakh in Indiens Norden erlebt seit ein paar Jahren einen Tourismusboom - mit erfreulichen Folgen: Es gibt jetzt Bergführerinnen. Und nicht nur das.

Von Nikolai Antoniadis

Rigzen musste nicht lange nachdenken, als die Lehrerin sie aufforderte, einen Aufsatz über einen Helden aus ihrer Heimat zu schreiben. Sie wählte eine Heldin. Während ihre Mutter im Gästehaus in Leh das Essen zubereitet, liegt Rigzen auf einer Matratze und erzählt über Thinlas Chorol, jene Frau, die in Ladakh die erste Reiseagentur gegründet hat, in der nur Frauen arbeiten. In Ladakh gibt es nicht viele wie sie, die als Vorbild herhalten können, schon gar nicht für eine Zwölfjährige.

Thinlas Chorol ist eine zierliche Frau mit glockenhellem Lachen. Wer der 38-Jährigen zum ersten Mal begegnet, kann ihre Zurückhaltung leicht als Schüchternheit missverstehen. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine enorme Entschlossenheit. Als sie 2009 ihre Trekkingagentur eröffnete, die Ladakhi Women's Travel Company, war das in Leh, der Hauptstadt der gleichnamigen Region im früheren nordindischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir, eine kleine Sensation: Chorol stellte nur Frauen an - in der Verwaltung, als Bergführerinnen und als Trägerinnen. Sie selbst, so erklärt sie ihre Motivation, hatte sich während ihres Studiums bei Agenturen als Guide beworben und war rüde abgewiesen worden. Sie als Frau sei doch körperlich dazu gar nicht in der Lage, war ein Argument. Ein anderes: Die Männer in den Dörfern, in die sie ihre Gruppe führen würde, respektierten keine Frau, die allein mit Fremden in den Bergen herumspaziert.

Männer und Frauen sind in Indien zwar offiziell gleichgestellt, aber die Lebenswirklichkeit in Ladakh spiegelt sich eher in einem verbreiteten Sprichwort: Das Wort einer Frau hat keinen Wert, so wie der Morgen nicht graut, wenn die Hühner gackern. "Ladakhis schwören im Namen ihrer Mutter", sagt Chorol, "aber es erben nur die Söhne. Frauen sollen heiraten und verlassen dann das Haus. Sie werden von ihrem Mann versorgt." Höhere Bildung für Frauen galt in Ladakh lange als Sünde. Die knappen finanziellen Mittel wurden für Söhne gespart.

Thinlas Chorol kennt die Realität auf dem Land. Sie stammt aus einem Dorf, Takmachik. Als Kind hat sie Ziegen gehütet. "Im Dorfrat sind nur Männer vertreten. Wenn die fort sind, schicken sie zwar ihre Frauen als Vertreter, aber die sprechen nicht und erheben auch nicht ihre Stimme gegen die Beschlüsse der Männer." Erst der Zustrom von Touristen, den Ladakh seit ein paar Jahren erlebt, hat Risse in der gesellschaftlichen Kruste verursacht.

Bis 2010 war der Tourismus in Ladakh überschaubar, überwiegend kamen Abenteurer und Backpacker. Die meisten Ladakhis blieben, was sie waren: Bauern und Selbstversorger. Oder sie arbeiteten für die Armee. Doch auf einmal überschwemmten Reiseveranstalter wie der Billiganbieter India Hikes aus Bangalore die Berge mit Touristen. Niemand hier war darauf eingestellt. Bis heute gibt es keine Tourismuspolitik, keine Regulierung, keine Vorkehrungen für den Umweltschutz. Aber so gut wie jeder versucht, irgendwie am Tourismus zu verdienen.

Die chaotische Entwicklung kam den Frauen allerdings zugute: Für sie ist es einfacher geworden, einen eigenen Berufswunsch zu verfolgen. Akzeptiert waren bislang nur Krankenschwester oder Lehrerin. Schon 2010 erhielt Ovessa Iqbal indienweit Aufmerksamkeit, weil sie als erstes muslimisches Mädchen der Region in den öffentlichen Dienst übernommen wurde. Vor drei Jahren haben vier junge Frauen aus Ladakh den Mount Everest bestiegen. Und seit Kurzem gibt es eine Klempnerin, Tsering Yangdol, die erste in der Geschichte des Landes.

Thinlas Chorol beschäftigt in ihrer Trekkingagentur mittlerweile etwa 30 Frauen - als Bergführerinnen, aber auch in der Verwaltung, als Ausbilderinnen und Englischlehrerinnen für angehende Guides. Das Gehalt, sagt Chorol, mache die Frauen unabhängiger; es gibt ihnen in ihren Familien einen anderen Status. Und das Engagement der Unternehmerin geht noch darüber hinaus. Sie schulte Frauen in den Dörfern, die jetzt Homestays anbieten. Und sie beschäftigt Trägerinnen - eine Idee, die nicht ganz einfach umzusetzen war, denn jede der Frauen muss 20 bis 25 Kilogramm schultern. Leh liegt bereits auf über 3500 Metern Höhe, und viele der Routen durch den Himalaya führen auf 4500 Meter und höher. Die Touren sind körperlich anspruchsvoll, auch für Einheimische. Chorol musste viel Überzeugungsarbeit leisten, um Frauen zu finden, die für sie arbeiten. Zumal es ein weiteres Problem gibt: Nach Einbruch der Dunkelheit sei es für ihre Angestellten auf den Straßen von Leh nicht sicher, sagt Chorol. Deshalb schließt ihr Büro bereits um 19 Uhr, und nicht, wie die meisten anderen, erst um 22 Uhr.

Chorol wandte sich deswegen an den Polizeichef von Leh. Er hörte sich, so ihr Eindruck, ihr Anliegen eher widerwillig an und entgegnete dann, er wisse von keinem Fall, in dem eine Frau Anzeige wegen Belästigung erstattet habe. Chorol bot ihm an, ihm die Orte zu zeigen, die Frauen am Abend besser nicht betreten: am Tibetischen Markt, in Old Town, in den unbeleuchteten Seitenstraßen des Main Markets. Er aber habe abgewunken.

Tatsächlich gibt es wenige Anzeigen wegen Belästigung, Vergewaltigung oder auch häuslicher Gewalt - und noch weniger Verurteilungen. Viele Frauen in Ladakh, sagt Chorol, kennen ihre Rechte nicht. Sie melden Verbrechen nicht, weil sie nicht wissen, dass sie das dürfen. Oder sie geben dem gesellschaftlichen Druck nach. Chorol erinnert sich an eine Mitschülerin aus ihrem Dorf, damals 17, die von einem Bekannten und dessen Freunden vergewaltigt wurde. Dem Mädchen wurde danach angeboten, den Bruder eines ihrer Vergewaltiger zu heiraten. Die Eltern der jungen Männer sandten ihrer Familie Geld und erkauften sich so Schweigen. Schließlich wurde die junge Frau mit einem Mann verheiratet, der sie regelmäßig schlug. Das sei kein Einzelfall, sagt Chorol. "Niemand spricht mit den Frauen. Stattdessen werden sie häufig beschuldigt, selbst für die Gewalt, die ihnen angetan wurde, verantwortlich zu sein."

Nachdem sie die Frau vor ein paar Jahren wiedertraf, entschied sie, etwas zu unternehmen. Damals gründete sie das Ladakhi Women's Welfare Network. Sie fand zwei ladakhische Auswanderer in Kanada und den USA, die bereit waren, Geld für ein Frauenhaus zu spenden. Chorol flog nach Delhi, um die Formalitäten zu regeln. Noch im Winter, kurz bevor die Passstraßen gesperrt werden und nur noch kleine Propellermaschinen Ladakh erreichen. Doch der Antrag wurde abgelehnt. Die Anti-Schwarzgeld-Gesetze von Premierminister Narendra Modi haben es schwierig gemacht, ausländisches Geld in Indien zu investieren. Aber Chorol gibt nicht auf. Sie betreut Frauen jetzt individuell, ohne Frauenhaus. Sie hat inzwischen auch ein Frauencafé am Main Market eröffnet. Und obwohl sie weiterhin gegen Vorbehalte kämpfen muss, wird ihr Engagement belohnt. Im Dezember 2018 erhielt Chorol von den Vereinten Nationen in Indien den Preis Women Transforming India, den sie im Namen ihrer Mitarbeiterinnen annahm.

Fragt man sie, was sie am liebsten tut, sagt sie: "Anderen den Himalaya zeigen." Und wenn man sie damals, während ihres Studiums, als Bergführerin angestellt hätte, würde sie heute vermutlich nichts anderes tun als das. Doch ihr Weg war ein anderer. Mittlerweile hat Chorols Beispiel Schule gemacht. Ein paar weitere Frauenunternehmen sind entstanden, auch Interessenverbände wie die Women's Alliance Ladakh oder der Ladakh Women Centre sowie Frauengruppen innerhalb bestehender Verbände wie der Women's Wing in der Ladakh Buddhist Association. Wenn sie an die Trekkingunternehmen zurückdenkt, die sie damals abgewiesen haben, muss sie lachen. "Das haben sie davon."

Wobei, so einfach ist das alles noch nicht. Im Guesthouse von Rigzens Familie gibt es jetzt Abendessen. Der Vater ist heimgekommen, er arbeitet am Flughafen. Er anerkenne Thinlas Chorols Werk, sagt er. Aber für seine Tochter Rigzen sei das nicht der richtige Weg. Warum nicht? Er zuckt müde die Achseln und sieht dann halb verschämt, halb hilfesuchend zu seiner Frau. Die Arbeit in den Bergen, sagt er dann, sei irgendwie Männersache.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2019
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