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Sikh-Heiligtum in Indien:Zum Essen kommen Hunderttausend

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Im Goldenen Tempel von Amritsar speisen jeden Tag Massen an Bedürftigen, Pilgern und Touristen gratis in der größten Gemeinschaftsküche der Welt - und helfen damit den Gläubigen.

Von Margit Kohl

Eine warme Mahlzeit am Tag, dazu ein festes Dach über dem Kopf, und das alles gratis. Hört sich an wie eine Weihnachtsgeschichte. Und tatsächlich: Im Goldenen Tempel von Amritsar schläft niemand hungrig ein, findet jeder eine Bleibe, denn anderen zu helfen, gehört zum Glaubensgrundsatz von weltweit rund 27 Millionen Sikhs.

"Für gewöhnlich spenden wir zehn Prozent unseres Einkommens für gemeinnützige Zwecke oder engagieren uns ehrenamtlich", sagt Gunbir Singh, ein stattlicher älterer Herr mit weißem Bart, weißem Gewand und ebenso weißem Turban. Der Sikh-Gelehrte kennt den Goldenen Tempel im Norden Indiens, nur wenige Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt, schon seit Kindertagen und nimmt Besucher gerne mit hinein.

Aus allen vier Himmelsrichtungen ist der Tempel zugänglich, das soll Offenheit symbolisieren. "Ob arm oder reich. Ob Sikh, Hindu, Moslem oder Christ. Hier ist jeder willkommen", sagt Singh.

Doch vor dem Besuch dieses wichtigen Sikh-Heiligtums muss man erst einmal den Kopf mit Tuch oder Turban bedecken und seine Hände und Füße waschen. Im Inneren befindet man sich dann in einem goldglänzenden Tempel, der wie eine kleine Schmuckschatulle inmitten des sogenannten Nektarsees liegt, umgeben von schneeweißen Palastbauten. Arjun Dev, der fünfte Guru der Sikhs, ließ die Gebäude im 16. Jahrhundert erbauen.

Das Sonnenlicht gleißend hell, der Boden glühend heiß

Tagsüber werden im Goldenen Tempel Verse aus dem Heiligen Buch rezitiert und die begleitenden Gesänge über Lautsprecher in der ganzen Anlage übertragen. So entsteht eine höchst andächtige Atmosphäre, und viele Pilger nehmen im Nektarsee ein rituelles Bad. Weil der Besuch des Tempelinneren selten unter zwei Stunden Wartezeit zu machen ist, umrundet man lieber den Heiligen See, der von schneeweißem Marmor umgeben ist. Das ist für manche durchaus eine kleine Herausforderung.

Bei 40 Grad Celsius ist nicht nur das Sonnenlicht in der weißen Umgebung gleißend, sondern auch der Marmorboden so glühend heiß, dass man sich barfuß schnell Blasen an den Füßen holt, wenn man nicht auf den Läufern bleibt.

Dann führt Gunbir Singh zum Essen in die größte Gemeinschaftsküche der Welt, die ebenfalls zum Tempelkomplex gehört. Täglich kommen bis zu 100 000 Pilger, Einheimische und Touristen zum Gratisessen. Gekocht wird vegetarisch, auch wenn manche Sikhs es außerhalb des Tempels mit dem Fleischverzicht nicht mehr ganz so streng nehmen. Trotz des einfachen Essens handelt es sich aber keineswegs um eine Armenspeisung.

Mit Gründung des Sikhismus galt das Gemeinschaftsessen schon im 15. Jahrhundert als sichtbares Zeichen gegen alles Trennende des Kastensystems der Hindus. "Egal ob Banker oder Bettler, bei uns sind alle gleich", sagt Singh. Ausdruck dieser Gleichheit sind bei den Sikhs auch die gleichlautenden Familiennamen: Singh (Löwe) bei Männern und Kaur (Prinzessin) bei Frauen.

Das gemeinsame Mahl, das sogenannte Langar, wird zum größten Teil durch Geldspenden von Organisationen und Privatpersonen finanziert. Gespendete Naturalien werden meist gleich direkt im Tempel angeliefert. Dann müssen die Köche schon mal geschwind den Menüplan ändern.

Gesunde Ökoprodukte sind dabei für Gunbir Singh besonders wichtig. Als Chef der Dilbir Foundation veranstaltet der 59-Jährige nicht nur jeden Sonntag einen Biomarkt in Amritsar, um Kleinbauern zu unterstützen und Städter mit guten Nahrungsmitteln zu versorgen. Er setzt sich auch für mehr Bioprodukte in der Großküche des Tempels ein. "Inzwischen wird bereits auf etwa fünf Hektar Biogemüse für die Tempelküche angebaut", sagt Singh. Ein guter Anfang, schließlich sind Ökoprodukte in Indien noch weitgehend Neuland. Man fragt sich ohnehin, wie man in der Großküche täglich bis zu 100 000 Esser satt bekommt.

Unter den Arkaden des Küchengebäudes sitzt bereits eine große Schar Freiwilliger und versucht, Bergen von Karotten, Blumenkohl und Knoblauch Herr zu werden. Es wird geschält und geschnippelt, was das Zeug hält, denn die Küche braucht ständig Nachschub. Im Getümmel kann man schnell den Überblick verlieren.

Geschnippelt wird ehrenamtlich, gekocht professionell

Doch Amritpal Singh, Informationsbeauftragter des Shiromani-Gurdwara-Parbandhak-Komitees (SGPC), das die Gemeinschaftsküche leitet, muss eigentlich wissen, wie der Laden funktioniert. Nach seiner Schätzung gibt es 300 Festangestellte und mindestens genauso viele Freiwillige, wenn nicht sogar mehr. An ehrenamtlichen Helfern herrscht nie Mangel, denn gutes Karma ist ihnen für die ganze Schufterei Lohn genug. Bei den Köchen kommt allerdings kein Freiwilliger zum Einsatz.

"Ohne Profis würden Gerichte in solchen Mengen wohl kaum gelingen", sagt Amritpal Singh. Bei genauen Angaben zum Tagesverbrauch von Lebensmitteln kommt auch Singh ins Schlingern. Er schätzt, dass da schon mal um die zwölf Tonnen Mehl, vier Tonnen Gemüse, vier Tonnen Reis und eine Tonne Butter pro Tag zusammenkommen.

In der Bäckerei hat jedenfalls keiner Zeit, sich auch noch mit statistischen Fragen zu beschäftigen. Bei dem Rauch und dem Mehlstaub, der hier durch die Luft wirbelt, verschwindet die Szenerie trotz der surrenden Ventilatoren fast wie in einem Sandsturm. Schemenhaft sind Frauen in bunten Saris zu erkennen, die von Hand Chapati-Fladenbrote fertigen. Dafür gibt es zwar auch Maschinen, aber jedes der Geräte schafft pro Stunde nur 8000 Fladen - das reicht nicht. "Maschinen sind teuer, wir nicht", sagt Kirandeep Kaur und rollt mit dem Nudelholz den nächsten Teigballen platt.

Kochlöffel, so groß wie Paddel

Kaum ist man raus aus dem Rauch der Bäckerei, steht man auch schon mittendrin in der Höllenhitze der Küche. Zwar haben längst Gasflaschen das Brennholz ersetzt, doch ist es deshalb nicht minder heiß und hektisch am Herd. Die badewannengroßen Kessel wirken wie aus einem Asterix-und-Obelix-Comic, indem gerade der nächste Zaubertrank gebraut wird.

Mit einem Kochlöffel so groß wie ein Ruderpaddel rührt ein Koch gerade 5000 Portionen Kokosreispudding an. Wie er es schafft, dass der XXL-Nachtisch nicht anbrennt, bleibt sein Geheimnis. Denn bei dem ohrenbetäubenden Lärm versteht man kein Wort seiner langwierigen Erklärung.

Draußen sind die Türen zu den beiden spartanisch ausgestatteten Speisehallen noch geschlossen. Nach jeder Essenssitzung werden die Böden frisch gewischt und die Teppichläufer wieder Reihe für Reihe ausgerollt. Während die neuen Esser vor den Sälen warten, haben sie sich schon mal mit Tellersets aus Edelstahl versorgt. Bereits kurz nach Einlass füllt sich der Raum schnell mit Menschen, die im Schneidersitz auf den Läufern am Boden Platz nehmen.

Zwischen den Reihen bleibt stets ein Laufgang für die Austeiler frei, schließlich muss es schnell gehen. Schon nach 30 Minuten warten die nächsten hungrigen Esser, und so bleibt bei der Blockabfertigung wenig Zeit, mit seinem Nachbarn ins Gespräch zu kommen.

Die Brotausträger sind die ersten, die durch die Gänge eilen und aus ihren Weidenkörben die Fladen verteilen. Von der anderen Seite sind schon die Männer mit dem Reis gestartet, gefolgt von den Dhal-Trägern mit den Linsengerichten. Mit Eimern und Schöpfkellen ausgestattet, füllen sie zügig einen Teller nach dem anderen.

Das geschieht mit erstaunlicher Präzision, denn die Teller haben feste Portionsabteile für die verschiedenen Speisen. Einfach aber gut sind die Gerichte, die man auch als Europäer bedenkenlos essen kann, alles ist gekocht oder gebacken.

In der Karma-Küche darf jeder gratis essen, so oft er will, so viel er will und wann er will. Essen und Trinken hält bekanntlich nicht nur Leib und Seele zusammen, sondern vermittelt in der Gemeinschaft auch das Gefühl von Verbundenheit. Keine Familienfeier ohne gemeinsames Essen, keine religiösen Feste ohne Festtagsschmaus und kein Staatsempfang ohne gemeinsames Tafeln. Den Weltfrieden sichert das gleichwohl noch lange nicht.

Und obwohl Gewalt bei den Sikhs verpönt ist, wird das Recht auf Selbstverteidigung seit jeher in Anspruch genommen, wie diverse kriegerische Auseinandersetzungen im Verlauf der Geschichte belegen.

Der Goldene Tempel war 1984 weltweit in die Schlagzeilen geraten, als Ministerpräsidentin Indira Gandhi das Heiligtum vom Militär stürmen ließ. Radikale Sikhs hatten sich im Tempel verschanzt, um ein von Indien unabhängiges Khalistan zu erzwingen. Durch den Militäreinsatz starben nach Angaben der Sikh-Gemeinschaft auch Tausende Zivilisten, die sich im Tempel aufgehalten hatten - ein traumatisches Erlebnis für die Gemeinschaft der Sikhs. Die indische Regierung sprach von mehreren Hundert Opfern. Nur wenige Monate später wurde Indira Gandhi von ihren Sikh-Leibwächtern aus Rache für Amritsar getötet. Daraufhin gingen landesweit aufgebrachte Hindus auf die Sikhs los.

Draußen auf dem Tempelgelände ist es inzwischen bereits dunkel geworden. Aus dem Küchentrakt dringt noch immer ohrenbetäubendes Geschepper durch die Hallen. Tausende Teller, Schüsseln und Töpfe aus Edelstahl müssen gewaschen werden - von Hand.

Eine Spülmaschine gibt es nicht. Dafür viele fleißige Freiwillige, die in rasender Geschwindigkeit schmutziges Geschirr lautstark in Spülbecken tauchen. Noch aus der Ferne wirkt das Geräusch wie ein Mantra, von dem sich mancher Gast, der hier zur späten Stunde kostenfrei unter den Arkadengängen übernachtet, nun in den Schlaf wiegen lässt: Teller-Schüssel-Topf, Teller-Schüssel-Topf, Teller-Schüssel-Topf. Ein ewiger Kreislauf.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2019
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