Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Ende der Reise":Stubenhocken mit Komfort

Lesezeit: 1 min

Bei Kempinski können Hotelgäste direkt aus dem Bett aufs Bike steigen, in Paris auf Kinoleinwänden Filme schauen. Wer will da noch rausgehen?

Von Jochen Temsch

Stubenhocken ist Staatsräson. Da sind die Minister und Virologen ganz bei einem Philosophen des 17. Jahrhunderts. Von Blaise Pascal, im Nebenberuf Mathematiker, stammt der Spruch: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Zu seiner Zeit war Mallorca noch nicht entdeckt, das Recht auf Urlaub unbekannt und die Mobilität aus vielerlei Gründen eingeschränkt, unter anderem durch das Fehlen von Billig-Airlines, aber auch durch Ausgangssperren und Epidemien. Und heute? Andere Krankheit, gleiche weise Sprüche.

Führende Denker preisen das stille Kämmerlein - so eng die Wände auch zusammenrucken mögen bei der Heimarbeit am Computer, der Hilfslehrerverzweiflung, bei der Notbetreuung. Hochgehen möchte man diese Wände an manchen Tagen. Auch wegen der vielen Widersprüche. In einen Touribomber reinquetschen und auf die Balearen fliegen ist in Ordnung, eine abgelegene Ferienwohnung in Brandenburg buchen verboten. Die einen sonnen sich am Strand, die anderen kommen nicht einmal mehr von München nach Berlin. Wobei im letzteren Fall Markus Söder von seinen eigenen Worten eingeholt worden ist. Vor gut einem Jahr brachte es der bayerische Ministerpräsident und Fast-Kanzlerkandidat nach der Rückholung der deutschen Urlauber mit Pascalscher Klarheit auf den Punkt: "Jetzt sind alle da, jetzt können auch alle mal dableiben."

Wie schön, dass es inzwischen wenigstens Angebote für Formen des Reisens gibt, die dem Dableiben ziemlich nahe kommen. So hat beispielsweise die Luxushotelgruppe Kempinski eine neue Zimmerkategorie mit integriertem Fitness-Studio eingeführt. Gäste steigen aus dem Bett und direkt auf ein Bike, das sie über einen integrierten Bildschirm mit einem Personal Trainer verbindet. Das bringt einen in Schwung für den Tag voller Videokonferenzen. Hauptsache, alles ohne echten Kontakt zu anderen Menschen. Und in Paris wird das Glotzen sogar auf ein ganz neues Level gehoben. Ein soeben eröffnetes Hotel bietet Zimmer mit Kinoleinwänden vor den Betten an, Tausende Spielfilme und Songs zum Karaoke-Singen inklusive. Wer möchte da noch raus-, geschweige denn woanders hingehen? Stubenhocken mit Komfort ist das neue Urlaubmachen. Die Philosophie lässt sich ausbauen: Mini-Bar und Büchsenöffner ersetzen Kneipe und Restaurant, das Waschbecken den Spa, Wasserkocher und Instantpulver den Cafébesuch, der Kunstdruck an der Wand das Museum. Ein größeres Glück ist kaum vorstellbar.

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