FKK in Frankreich:Nicht ganz ohne
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In Cap d'Agde im Süden Frankreichs machen in der Hochsaison 40.000 Naturisten Ferien - als FKK-Anfänger unter so vielen Profis dauert es etwas, bis die Entspannung eintritt.
Es ist wie in einem dieser furchtbaren Träume, in denen man nackt vor einer Gruppe angezogener Menschen steht, und alle glotzen einen an. Nur umgekehrt: Ungefähr 3000 Nackte starren mich an, weil ich eine Badehose und ein T-Shirt trage. Viele schütteln den Kopf, einige zeigen mit dem Finger auf mich, manche rufen Beleidigungen in meine Richtung.
Angezogen am Nacktstrand! Das ist offenbar der schlimmste Fauxpas, den man in Cap d'Agde begehen kann. Man darf hier dick sein oder dünn, alt, jung, komplett tätowiert, komplett behaart oder komplett rasiert, weiß, schwarz, gelb oder stellenweise knallrot - aber auf gar keinen Fall bekleidet. Am Strand ist Nacktsein Pflicht, in der Ferienanlage ist es erwünscht, selbst beim Metzger und im Postamt ist es in Ordnung, nackt zu sein. Als Angezogener gilt man als ungezogen.
Menschen sind Herdentiere, also schäme ich mich augenblicklich für meine Hose und mein T-Shirt, die ich wegen des frischen Windes und meiner noch käsigen Haut lieber angelassen habe. Hinter einem Bastzaun ziehe ich mich aus, verstaue die Klamotten in einer Plastiktüte und trotte unbekleidet weiter zur Strandbar, wo ich lässig einen Salat bestelle. Erst habe ich das Gefühl, eine fiese Nacktschnecke zu sein, die an Blättern nagt und wahrscheinlich bald verjagt wird. Aber nach und nach gewöhnt man sich an das eigene Nacktsein und die vielen anderen Nacktschnecken. 40.000 FKK-Touristen beherbergt das "Quartier Naturiste" von Cap d'Agde in der Hochsaison. Die Ferienanlage bei Montpellier ist die Welthauptstadt der Nackten.
Als skeptischer Teilzeitnackter unter 40.000 überzeugten Vollnackten denkt man unweigerlich über den Sinn von Kleidung, Scham und das Gefühl der Freiheit nach. Sind wir nicht alle nackt auf die Welt kommen, werden wir sie nicht wieder nackt verlassen? Müsste Nacktsein also nicht das Normalste und Angenehmste auf der Welt sein? Im FKK-Viertel von Cap d'Agde gehen die Feriengäste nackt zum Friseur, nackt zum Supermarkt und nackt in die Pizzeria. Auf dem Parkplatz begegnet einem morgens ein nackter Opa auf dem Fahrrad, der ein Baguette auf den Gepäckständer geklemmt hat.
Am Anfang sind solche Begegnungen bizarr, aber bald staunt man nicht mehr darüber, wie komisch der Mensch wirkt, wenn er unverhüllt ist. Die wenigsten Nackten sind wohlgeformt. Nur drei oder vier unter den Tausenden fallen als idealtypisch im Sinne von Leonardo da Vincis vitruvianischem Menschen auf. Aber egal, niemand wird ausgegrenzt - vorausgesetzt, er hat keine Textilien am Leib.
Luft, Licht und ein naturverbundener Lebenswandel
Der französische Autor Michel Houellebecq, der viele Sommer in Cap d'Agde verbracht hat, bezeichnete die allgemeine Nacktheit und Toleranz dort als "sozialdemokratisch". Alle sind gleich, so wie sie einst erschaffen wurden - und das Motto "Gleichheit, Brüderlichkeit, Nacktheit" gilt auch für jene, deren Leib durch jahrelangen Konsum von Tiefkühlpizzas und Bier verformt worden ist.
Naturismus ist aus Sicht der Naturisten ein Lebensstil, der gegenseitige Rücksichtnahme, Naturschutz und Solidarität mit Sinnesgenossen einschließt. Naturisten wehren sich seit gut 100 Jahren gegen die Sexualisierung der Nacktheit. Es ging ihnen ursprünglich um Luft, Licht und einen naturverbundenen Lebenswandel, wozu oft auch vegetarische Ernährung gehörte. Um 1900 kam das sogenannte Schwedisch-Baden an der Ostsee und im Raum Berlin auf, die ersten FKK-Vereine wurden ebenfalls zu dieser Zeit gegründet.
Wie jeder Ismus brachte auch der Naturismus eigene Ideologien hervor. Die meisten FKK-Vereinigungen hatten einen protestantischen Hintergrund, Rohkost und Turnübungen spielten eine wichtige Rolle. Die Nationalsozialisten vereinnahmten später den Nacktbereich, integrierten die FKK-Vereine in den "Bund für Leibeszucht" und kombinierten die Ideale der FKK-Bewegung mit Rassismus. Ausgeschlossen vom Körperkult waren alle, die nicht dem "arisch-olympischen Geist" entsprachen.
Von der asketischen Tendenz der ursprünglichen FKK-Bewegung ist in Cap d'Agde nur noch wenig zu spüren. 1,5Millionen Touristen nächtigen dort pro Jahr, die meisten von ihnen im Juli und August. Das Naturisten-Viertel ist dann eine einzige Nacktparty. Die Leute treffen sich in Nacktdiscos, grillen nackt vor ihren Appartements, einige vergnügen sich bis morgens im Nacktclub "Glamour", wo es laut Houellebecq immer wieder zu krassen Swingerpartys kommen soll.
Von solchen Exzessen will Christian Bèze, Tourismusdirektor von Cap d'Agde, nichts wissen. Er kämpft tapfer gegen den Ruf seines Ortes als Ferienziel von Voyeuren und Swingern. Lieber weist er auf die 267Sonnentage im Jahr hin, die das Nacktbaden an der Küste des Languedoc tatsächlich angenehmer machen als an der Nordsee. 14 Kilometer Sandstrand gibt es bei Cap d'Agde, zwei Kilometer davon sind für die Nackten reserviert. Die zentrale Rolle des Naturismus für den Ort kann Bèze aber nicht leugnen.
Denn bevor die Nackten nach dem Zweiten Weltkrieg einen kleinen Campingplatz eröffneten, gab es dort nichts als Sumpf. Paul René Oltra gründete 1950 das Freikörper-Camp. Damals kamen jeden Sommer ein paar Naturisten aus Frankreich, Holland und Deutschland. Heute wird das Nacktresort von Jean-Michel Oltra geführt, einem Sohn des Gründers. Allein der Campingplatz hat 2500 Stellplätze, dazu kommen mehrere Hotels, Appartementhäuser und Bungalows.
"Das ist eine autonome Nacktwelt", sagt Bèze, "dort gibt es alles, was man zum Leben braucht." Wer will, kann die Nacktstadt monatelang nicht verlassen und spart auf diese Weise viel Geld für Klamotten. Auf dem Weg zum Strand gibt es eine Einkaufspassage, die aussieht wie jede andere Einkaufspassage - zwei Supermärkte, ein Metzger, Eisdielen, Cafés, Tabakläden. Bloß sind die Kunden, die durch die Passage flanieren, alle nackt. Was außerhalb des Naturistengeländes als Erregung öffentlichen Ärgernisses eingestuft würde, ist hier ausdrücklich erwünscht.
Am Strand ist Nacktsein Pflicht
Die Grenze zwischen der Welt der Nackten und der Welt der Angezogenen wird dementsprechend scharf kontrolliert. Die Nudisten-Stadt ist rundum von meterhohen Zäunen umgeben. Am Haupteingang gibt es Schranken und Pförtnerhäuschen. Dort liegt eine Broschüre aus, in der knapp 100 Regeln aufgelistet sind, die auf dem Gelände gelten.
In den Kaufhäusern, Restaurants und Cafés ist Nacktsein erlaubt. Am Strand ist Nacktsein Pflicht. Verboten ist das Fotografieren und Filmen im Dorf, Grillen am Strand und Sex in der Öffentlichkeit sind ebenfalls nicht gestattet. Hat Houellebecq alles nur erfunden?
Der Spaziergang am Strand entlang führt mich zum legendären Schweinchenstrand, wo die Menschen laut Houellebecq eine besonders tolerante Einstellung gegenüber anderen Nackten pflegen sollen. Abseits vom Familienstrand, zwei Kilometer vom Nudistendorf entfernt, rotten sich dort Neo-Naturisten zusammen, die sich vom ursprünglichen, unschuldigen Ansinnen der FKKler absetzen, indem sie die hedonistische Seite des Nacktseins offen ausleben, um es vorsichtig auszudrücken. Um es direkter zu sagen: Am Schweinchenstrand geht es in der Hochsaison zu wie auf dem Set eines Open-Air-Pornofilms.
Aber muss das nachmittags am Strand geschehen? Umgeben von Touristen? Nein, muss es nicht. Das finden auch die beiden Polizisten, die per Jetski an die Schweinebucht heranschießen. Sie tragen eine Art Neopren-Version der französischen Polizeiuniform und halten Ferngläser in der Hand. Sie brüllen etwas, das nicht freundlich klingt.
Aber als sie am Strand ankommen, ist längst alles vorbei. Und wenig später geht es hinter den Dünen weiter. Natürlich ist Nacktheit natürlich, und man kann natürlich auch behaupten, öffentlicher Sex sei natürlich. Aber geht eine Orgie unter freiem Himmel nicht zu weit? Doch, finden viele Anwohner, und deshalb wunderte sich auch keiner, dass zwei der berüchtigten Clubs im vergangenen Sommer abbrannten - vermutlich Brandstiftung.
Auf dem Weg zurück zum Hotel kommt man an Reihenhäusern vorbei, wie sie in jeder deutschen Kleinstadt stehen könnten. Jägerzaun, ordentlich gestutzte Hecke, Sichtschutz aus Bast, Wäscheständer mit frisch gewaschenen T-Shirts und Unterhosen. Moment mal, wozu brauchen Nudisten eigentlich einen Wäscheständer? Das wirkt irgendwie unnatürlich. An der Rezeption des sehr eleganten Nackthotels werde ich von ordentlich angezogenen Damen begrüßt. Die Natureva Spa Résidence ist ein gehobenes Nackthotel, das sich vom zweifelhaften Ruf mancher Nacktclubs auf dem Naturistengelände angenehm abhebt. Nacktsein ist hier erlaubt, aber nicht Zwang.
Der Abend ist recht frisch, vom Balkon her weht ein kühler Wind ins Zimmer, also ziehe ich mir heimlich eine Hose und ein Hemd an. Weil der Kachelboden ziemlich kühl ist, trage ich sogar Schuhe. Der Stoff schabt auf der Haut, die Füße fühlen sich eingesperrt an. Voll bekleidet lege ich mich aufs Bett - und schlafe ein. Mein Traum handelt wieder mal von nackten Menschen, und ich bin der einzige Angezogene. Keiner lacht.
INFORMATIONEN:
Anreise: Hin- und Rückflug nach Montpellier kostet rund 200 Euro
Unterkunft: Résidence Natureva-Spa, 1 - Impasse du Bagnas, Village Naturiste Cap d'Agde, 34300 France, www.natureva-spa.com; ab 70 Euro/Nacht in der Nebensaison, ab 170/Nacht in der Hauptsaison
Weitere Auskünfte: Französische Zentrale für Tourismus Atout France, Postfach 100128, 60001 Frankfurt a. Main, www.franceguide.com oder vor Ort: Tourismusbüro Cap d'Agde, BP 544, 34305 Le Cap d'Agde, Tel.: 0033/4/67 01 04 04, www.capdagde.com