Japan

Hiroshimas Trauma

Die Stadt will aus ihren Schulbüchern ein Manga vom Atombombenabwurf und seinen schrecklichen Folgen streichen. Doch der Widerstand ist gewaltig.

Japan

Hiroshimas Trauma

Die Stadt will aus ihren Schulbüchern ein Manga vom Atombombenabwurf und seinen schrecklichen Folgen streichen. Doch der Widerstand ist gewaltig.

7. März 2023 - 2 Min. Lesezeit

Die Macht des Mangas in Japan hat Tomoko Nakatani unterschätzt. So viel kann die leitende Bildungsberaterin der Stadt Hiroshima schon zugeben in diesem Konflikt, den sie und die anderen in der Bildungsbehörde gerade auszutragen haben. Hunderte Beschwerden sind eingegangen, seit ihr Gremium beschlossen hat, in städtischem Lehrmaterial zur Friedenserziehung keine Passage mehr aus dem Klassiker „Hadashi no Gen“ von Zeichner Keiji Nakazawa über den Atombombenabwurf auf Hiroshima zu verwenden.

Mehrere Opferorganisationen haben die Entscheidung kritisiert. Auch der Präfektur-Ableger des National-Verbandes Hidankyo überbrachte neulich vor laufender Kamera eine schriftliche Beschwerde mit Nachfragen. Tomoko Nakatani sagte bei der Gelegenheit: „Wir hätten nicht gedacht, dass das eine so große Geschichte werden würde.“

Erstaunlich eigentlich, dass sich ein japanisches Bildungsgremium beim Thema Manga derart vertun kann. Denn japanische Comics und deren filmisches Pendant Anime sind im Inselstaat unübersehbare Stützen der Gegenwartskultur. In großen Buchläden füllen Mangas mehrere Regalreihen. In Tokios U-Bahn können viele Fahrgäste kaum ihren Blick vom Smartphone abwenden, weil sie in ein heruntergeladenes Werk vertieft sind. Zeichentrickfilme beherrschen die Kino-Programme.

„Hadashi no Gen“ von Keiji Nakazawa sticht heraus aus dieser Landschaft der gezeichneten Massenliteratur. Denn das Werk, herausgekommen 1973, verbindet die eingängige Bildsprache der Manga-Kunst mit dem japanischen Trauma von 1945.

In Deutschland ist es unter dem Titel „Barfuß durch Hiroshima“ bekannt, der japanische Titel lautet wörtlich „barfüßiger Gen“ in Anlehnung an die Hauptfigur, den sechsjährigen Gen Nakaoka aus Hiroshima.

Die Geschichte ist eine authentische Aufarbeitung des ersten Atombombenabwurfs auf Japan und der Folgen für die Überlebenden – im Grunde eine Autobiografie. Zeichner Nakazawa, der 2012 starb, stammte auch aus Hiroshima. Er war selbst sechs Jahre alt, als er den amerikanischen Angriff überlebte, mit dem das Ende des Zweiten Weltkriegs begann.

Viele Generationen in Japan sind mit der Geschichte von Gen Nakaoka aufgewachsen. In etwa 20 Sprachen wurde sie übersetzt. Opferverbände halten die Nakazawa-Arbeit für ein pädagogisch wertvolles Plädoyer gegen Krieg und Atomwaffen. Trotzdem ist der aktuelle Streit nicht der erste.

Der Bildungsausschuss der Stadt Matsue wies 2013 sogar alle städtischen Grund- und Mittelschulen an, die Bände in deren Bibliotheken wegzusperren und sie Schülern nur noch im Beisein einer Lehrkraft zu zeigen.

Offizieller Grund für den Beschluss, den die Stadt später rückgängig machte: Zu viel Gewalt in der Darstellung.

Offizieller Grund für den Beschluss, den die Stadt später rückgängig machte: Zu viel Gewalt in der Darstellung.

Nakazawa-Anhänger vermuteten eher nationalistische Motive. „Hadashi no Gen“ thematisiert auch japanische Kriegsverbrechen und die Verantwortung des Kaisers.

Manga-Zensur wegen Japan-Kritik? „Überhaupt nicht“, sagt Tomoko Nakatani in Hiroshima. Die „Hadashi no Gen“-Passage ersetze man letztlich, weil sie die Wirklichkeit des Atombombenabwurfs nicht anschaulich genug mache. Man verleugne nicht die Bedeutung des Nakazawa-Werks. Das geht auch gar nicht, wie Tomoko Nakatani jetzt aus eigener Erfahrung sagen kann.

Team
Text Thomas Hahn
Bildredaktion Stefanie Preuin
Digitales Storytelling Celine Chorus