Das sind die Alben des Jahres

Es gab wieder viel scheußliche Musik in diesem Jahr. Und diese von Haftbefehl, St. Vincent, Alicia Keys, den „Kings of Convenience“, Masha Qrella oder „Mastodon“.

Von den SZ-Popkritikern
27. Dezember 2021 - 8 Min. Lesezeit

War ein seltsames Pop-Jahr. Natürlich auch pandemiebedingt. Mindestens 50 Prozent dessen, was den so wunderbaren Musikzirkus ausmacht, also die Konzerte, Tourneen, Festivals, waren weiterhin weg. Und die wenigen, die es gab, zumindest hierzulande, waren mit Abstand, Korbstühlen, Picknickdecken oder in Autos ein vernünftiger Ersatz (oder von Nena), aber zu echten Konzerten verhielten sie sich doch eher wie eine Ukulele zu einer E-Gitarre: Man kann dazu singen, aber will man wirklich?

Für die Fans war das traurig. Für die Industrie, vor allem die Teile, die ein paar Tonnen Stahl, Holz und Elektronik von einer Stadt in die nächste karrt, aufbaut, aufreißt, abbaut und weiterfährt, war es eine existenzbedrohende (und zum Teil -vernichtende) Katastrophe.

Aber auch was Alben, EPs und Singles betraf, war 2021 eigen. Eher wenige Meisterwerke, auf die sich alle einigen konnte. Zumindest im Westen kein richtig bestimmendes Genre – weder künstlerisch noch in den Verkaufszahlen (K-Pop: wie immer riesig, eh klar). Und auch kaum Künstler, die über alle Maßen kommerziell strahlten. Dafür ein paar Überraschungen: Abba waren plötzlich cool – und spät im Jahr mit ihrem Comeback-Album „Voyage“ dann doch noch bestimmend erfolgreich. Helene Fischer schaffte es deshalb nur auf Platz zwei der deutschen Album-Charts. Ein Jugendmedium namens Tiktok machte Fleetwood Mac, Phil Collins’ Drum-Fill zu „In The Air Tonight“ und Seemannslieder wieder zum Phänomen. Ein inzwischen auch eher altherrenrockhafter Musiker namens Dave Grohl machte eine junge Schlagzeugerin mit einem epischen, über viele Runde gehenden Duell zur Heldin der Gen-Z.

Dazwischen: viel Altes, ein bisschen Neues – und natürlich doch auch Fantastisches. Hier eine kleine, durchaus subjektive Auswahl.

Lingua Ignota:
„Sinner Get Ready“

Es geschieht selten, aber manchmal findet man doch noch Musik, die man so noch nie gehört hat. Lingua Ignotas „Sinner Get Ready“ (Sargent House / Cargo) ist so ein Album, und sein Genre zu bestimmen, ist, Gott, vermutlich unmöglich. Avantgarde-Doom-Feminismus? Am ehesten könnte man auf Diamanda Galás verweisen. Auf jeden Fall hat Lingua Ignota die perfekte Form und den perfekten Klang für ihre Vision gefunden, und sie hat ein Händchen für simple, aber sehr wirkungsvolle Textzeilen. Sie singt „Do you want to be in hell with me?“ oder „I am covered with the blood of Jesus“ und alles in einem sagt, JA, ich will mit dir in der Hölle in Jesus’ Blut schwimmen. Ich wollte nie etwas anderes. Und dann bleibt nur noch eins: süße, ewige Verdammnis. Juliane Liebert

St. Vincent:
„Daddy's Home“

Annie Clarke alias St. Vincent ist die Rollenspielerin unter den Indiepop-Stars der Gegenwart. Gerade eben noch auf „Masseduction“ sardonisch-nihilistische „Domina in der Irrenanstalt, sexy, aber verschlagen“, auf „Daddy’s Home“ (Virgin Music) jetzt „Benzo Beauty Queen“, also Miss Supercool aus den Siebzigern, mit blondem Bob, Perlenkette, silbernen Plateau-Schuhen und zottligem beigen Oversize-Flokati-Umhang. Also ungefähr in der Mitte zwischen Samson aus der Sesamstraße und Uma Thurman in „Pulp Fiction“. Und ziemlich genau so klingt das Album auch. Warmer, zurückgelehnter funky Seventies-Softrock, samt Wah-Wah-Gitarren, Steeldrum-Geklöppel und stolpernden E-Orgel-Tupfern. Zugleich große, retromanische Verbeugung vor dem Sound der Zeit und liebevolle Parodie. Jens-Christian Rabe

Haftbefehl:
„Das Schwarze Album“

Mit den Beats von Produzent Bazzazian geht es ja schon los: pure Emotion. Punk-Attitüde, Rock-Hymnen-Pose. Irre schlau trotzdem. Überall stottert, sirrt, kracht und flimmert irgendwas, ständig jammert, leiert, keift und strahlt ein Synthie, ein Klavier, womöglich sogar so etwas wie eine Geige. Die Drums starten, die Drums stoppen, überhaupt klingen sie, als wären sie auf Weltraumschrott auf der dunklen Seite des Mondes gespielt. Wahnsinn. Und da hat Haftbefehl, der große Schmerzensmann des Deutschrap, noch kein Wort gesprochen, gebrüllt, gespuckt, gewimmert, gelallt. Auf dem „Schwarzen Album“ (Universal Urban) hat er seinen Stil endgültig perfektioniert: Wortfetzen-Metaphern, Schlaglicht-Inhalte. Die Phonetik einzelner Silben wichtiger als Satzbau und Grammatik. Manchmal bleibt inzwischen nicht viel mehr als Gemurmel und Lautmalerei. Und auch hier: reines, ungefiltertes Gefühl, die Seele endgültig freigefräst, keinerlei Kalkül mehr. Im Grunde hat das Album in diesem Jahr die ganze vermoderte Deutschrap-Szene beerdigt. Haftbefehl macht Deutschlands authentischsten Gangsta-Rap? Nein, Haftbefehl macht jetzt endgültig Kunst. Jakob Biazza

Kings Of Convenience: „Peace Or Love“

Album des Jahres: Wäre das für 2021 eins, das den Wahnsinn der Welt besonders eindrücklich in Musik übersetzte? Oder im Gegenteil eins, das einen vor diesem Wahnsinn schützte, das half, sich für Momente abzuwenden? Für Letzteres gab es 2021 kein besseres Album als „Peace Or Love“ (EMI/Universal Music). Sagenhafte zwölf Jahre hatten sich die Kings Of Convenience Zeit gelassen seit ihren vorangegangenen Aufnahmen, dann waren sie plötzlich wieder da, punktgenau und oh, so hilfreich zwischen Pandemie, Impfgeschrei, Lockdown. Ein paar zarte Gitarrentöne, ein paar sanfte Melodien, die sich dem Hörer auf die Haut legten und sagten, beruhig dich, der ganze Mist da draußen wird vorbeigehen, irgendwann werden wir unten am Fluss sitzen, in den Abendhimmel blicken, und alles wird gut sein. Nicht das aufregendste Album des Jahres, aber vielleicht das wertvollste. Max Fellmann

Mon Laferte:
„Seis“

So etwas wie zu viel Trost kann es ja gar nicht geben. Wer denkt, all die zugigen Räume seines dunklen Herzens seien schon hinreichend mit warmen Decken gedämmt, der hat falsch gedacht. Da geht noch mehr. Nachzuhören auf „Seis“ (Universal Import) von Mon Laferte. Die chilenische Musikerin, mit ganzem prächtigem Namen Norma Monserrat Bustamante Laferte, ist in Lateinamerika bereits ein Star und mit diversen Latin Grammys ausgezeichnet. Auf „Seis“ versammelt sie 14 Song im schönsten Wechselspiel aus Salsa, Folklore und Pop, inspiriert von traditioneller Musik Mexikos. Hier ein paar dramatische Streicher, da ein schunkelndes Akkordeon, die Gitarre sowieso und die unverzichtbaren Mariachi-Trompeten. Vor und über allem tönt Mon Lafertes kraftvoll-seufzende Stimme, die zwischendurch von politischen Themen singt, vor allem aber, klar, über Liebe und flammende Herzen. Und wie hießt es in dem Song „Te vi“ so schön? : „Hoy quiero decierte que te ama“ – heute will ich dir gern sagen, dass ich dich liebe. Worauf also noch warten? Christiane Lutz

Alicia Keys:
„Keys“

Treue bedeutet ja nicht Langeweile. Alicia Keys ist glaubwürdig bei sich, ähnlich wie ihr Doppelalbum „Keys“ (Sony Music), die schlüssige Erbfolge nach dem vorangegangenen Album „Alicia“. Die inzwischen 40-Jährige holt aus gefundener Zen-Mitte diamantklare Gospel-Weisheiten, verzwickte Jazz-Harmonien und gewohnt lässiges Pop-Hauchen. Das Album will sich nicht zwischen Streetstyle und intimer Piano-Session entscheiden. Vinylknistern, jemand legt die Nadel auf die Platte, zündet Kerzen an, um in Baggy-Pants und Crop-Top die Arme umeinanderzulegen und Steady Blues zu tanzen. Das Konzept Alicia Keys am Klavier funktioniert damit selbst im verkopften Jahr 2021. Die selbsterklärte Queen braucht nicht viel Meta, nur großspurige Liebesschwüre. Und natürlich: babe, only you. Marlene Knobloch

Mastodon:
„Hushed and Grim“

„Hushed and Grim“ (Reprise Records) von Mastodon aus Atlanta ist die Doppel-LP des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, für alle, die entweder Progressive Rock oder mendelssohnartige Melodien oder schwere Metal-Riffs oder vertrackten Jazz oder Punk oder den Chorgesang von Requien oder ganz generell Überraschungen oder alles das zusammen zu schätzen wissen. Und hier steht mit Absicht Doppel-LP des Jahres. Doppel-CD wäre auch zulässig. Aber für Leute, die Streamingdienste wie zum Beispiel das besonders scheußliche Spotify nutzen, ist diese Musik zu schade. Für die ist eigentliche jede Musik zu schade. Diese aber ganz besonders. Peter Richter

Masha Qrella:
„Woanders“

„Wie soll ich dir das beschreiben? Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur.“ Das 70er-Jahre-Großstadtpoem, aus dem die Zeilen stammen, in ein jetztzeitiges Vocal-Dancefloor-Stück zu verwandeln, gehört zu den genialsten Ideen der Saison. Masha Qrella kannte man, wenn man sie denn kannte, bisher vor allem als Keyboarderin der Garagen-Soundscaper-Truppe Mina. Ihr Solo-Album „Woanders“ dokumentiert ein Bühnenprogramm, für das sie Gedichte des ost-westdeutschen Grenzgängers Thomas Brasch vertont hat. Was dabei herauskommt, ist bezaubernd bis atemberaubend: Braschs Verse über Entwurzelung und Widerstand werden in Qrellas aus Minimal-Indie, Techno und Sixties-Echos gespeisten Songs zu berührbaren Gestalten und kleinen Universen, als hätten sie nur darauf gewartet. Ein lyrisches Popalbum, mit dem man lange überwintern können wird. Joachim Hentschel

Floating Points & Pharoah Sanders: „Promises“

Die Paarung war so überraschend wie der Erfolg. Der Electro-Produzent und DJ Floating Points hatte sich mit dem Coltrane-Weggefährten und Brachialsaxofonisten Pharoah Sanders zusammengetan. Im Zusammenspiel mit dem 44 Jahre jüngeren Engländer und den Londoner Symphonikern zeigte der, wie hauchzart er spielen kann, bis hin zu einer Stille, in der schon der Fingersatz der Klappen und leises Murmeln die Musik ausmachen. „Promises“ (Luaka Bop) heißt das Werk in neun Sätzen, das die beiden für Elektronik, Saxofon und Orchester geschrieben haben. Bestimmendes Motiv ist ein kristallklarer Akkord, der einen sofort in seinen Bann zieht. Mangels Genre-Begriffen wurde das Album gerne als „Ambient Jazz“ in die entsprechenden Regale geräumt. Was viel interessanter bleibt, ist aber die Tatsache, dass der Erfolg der Kooperation einiges über den Zustand der kollektiven Psyche erzählt. Weil der nicht so gut war im zweiten Pandemiejahr, ist „Promises“ eine wunderbare Flucht in eine Welt, in der alles in Ordnung ist. Andrian Kreye

Lingua Ignota:
„Sinner Get Ready“

Es geschieht selten, aber manchmal findet man doch noch Musik, die man so noch nie gehört hat. Lingua Ignotas „Sinner Get Ready“ (Sargent House / Cargo) ist so ein Album, und sein Genre zu bestimmen, ist, Gott, vermutlich unmöglich. Avantgarde-Doom-Feminismus? Am ehesten könnte man auf Diamanda Galás verweisen. Auf jeden Fall hat Lingua Ignota die perfekte Form und den perfekten Klang für ihre Vision gefunden, und sie hat ein Händchen für simple, aber sehr wirkungsvolle Textzeilen. Sie singt „Do you want to be in hell with me?“ oder „I am covered with the blood of Jesus“ und alles in einem sagt, JA, ich will mit dir in der Hölle in Jesus’ Blut schwimmen. Ich wollte nie etwas anderes. Und dann bleibt nur noch eins: süße, ewige Verdammnis. Juliane Liebert

St. Vincent:
„Daddy's Home“

Annie Clarke alias St. Vincent ist die Rollenspielerin unter den Indiepop-Stars der Gegenwart. Gerade eben noch auf „Masseduction“ sardonisch-nihilistische „Domina in der Irrenanstalt, sexy, aber verschlagen“, auf „Daddy’s Home“ (Virgin Music) jetzt „Benzo Beauty Queen“, also Miss Supercool aus den Siebzigern, mit blondem Bob, Perlenkette, silbernen Plateau-Schuhen und zottligem beigen Oversize-Flokati-Umhang. Also ungefähr in der Mitte zwischen Samson aus der Sesamstraße und Uma Thurman in „Pulp Fiction“. Und ziemlich genau so klingt das Album auch. Warmer, zurückgelehnter funky Seventies-Softrock, samt Wah-Wah-Gitarren, Steeldrum-Geklöppel und stolpernden E-Orgel-Tupfern. Zugleich große, retromanische Verbeugung vor dem Sound der Zeit und liebevolle Parodie. Jens-Christian Rabe

Haftbefehl:
„Das Schwarze Album“

Mit den Beats von Produzent Bazzazian geht es ja schon los: pure Emotion. Punk-Attitüde, Rock-Hymnen-Pose. Irre schlau trotzdem. Überall stottert, sirrt, kracht und flimmert irgendwas, ständig jammert, leiert, keift und strahlt ein Synthie, ein Klavier, womöglich sogar so etwas wie eine Geige. Die Drums starten, die Drums stoppen, überhaupt klingen sie, als wären sie auf Weltraumschrott auf der dunklen Seite des Mondes gespielt. Wahnsinn. Und da hat Haftbefehl, der große Schmerzensmann des Deutschrap, noch kein Wort gesprochen, gebrüllt, gespuckt, gewimmert, gelallt. Auf dem „Schwarzen Album“ (Universal Urban) hat er seinen Stil endgültig perfektioniert: Wortfetzen-Metaphern, Schlaglicht-Inhalte. Die Phonetik einzelner Silben wichtiger als Satzbau und Grammatik. Manchmal bleibt inzwischen nicht viel mehr als Gemurmel und Lautmalerei. Und auch hier: reines, ungefiltertes Gefühl, die Seele endgültig freigefräst, keinerlei Kalkül mehr. Im Grunde hat das Album in diesem Jahr die ganze vermoderte Deutschrap-Szene beerdigt. Haftbefehl macht Deutschlands authentischsten Gangsta-Rap? Nein, Haftbefehl macht jetzt endgültig Kunst. Jakob Biazza

Kings Of Convenience: „Peace Or Love“

Album des Jahres: Wäre das für 2021 eins, das den Wahnsinn der Welt besonders eindrücklich in Musik übersetzte? Oder im Gegenteil eins, das einen vor diesem Wahnsinn schützte, das half, sich für Momente abzuwenden? Für Letzteres gab es 2021 kein besseres Album als „Peace Or Love“ (EMI/Universal Music). Sagenhafte zwölf Jahre hatten sich die Kings Of Convenience Zeit gelassen seit ihren vorangegangenen Aufnahmen, dann waren sie plötzlich wieder da, punktgenau und oh, so hilfreich zwischen Pandemie, Impfgeschrei, Lockdown. Ein paar zarte Gitarrentöne, ein paar sanfte Melodien, die sich dem Hörer auf die Haut legten und sagten, beruhig dich, der ganze Mist da draußen wird vorbeigehen, irgendwann werden wir unten am Fluss sitzen, in den Abendhimmel blicken, und alles wird gut sein. Nicht das aufregendste Album des Jahres, aber vielleicht das wertvollste. Max Fellmann

Mon Laferte:
„Seis“

So etwas wie zu viel Trost kann es ja gar nicht geben. Wer denkt, all die zugigen Räume seines dunklen Herzens seien schon hinreichend mit warmen Decken gedämmt, der hat falsch gedacht. Da geht noch mehr. Nachzuhören auf „Seis“ (Universal Import) von Mon Laferte. Die chilenische Musikerin, mit ganzem prächtigem Namen Norma Monserrat Bustamante Laferte, ist in Lateinamerika bereits ein Star und mit diversen Latin Grammys ausgezeichnet. Auf „Seis“ versammelt sie 14 Song im schönsten Wechselspiel aus Salsa, Folklore und Pop, inspiriert von traditioneller Musik Mexikos. Hier ein paar dramatische Streicher, da ein schunkelndes Akkordeon, die Gitarre sowieso und die unverzichtbaren Mariachi-Trompeten. Vor und über allem tönt Mon Lafertes kraftvoll-seufzende Stimme, die zwischendurch von politischen Themen singt, vor allem aber, klar, über Liebe und flammende Herzen. Und wie hießt es in dem Song „Te vi“ so schön? : „Hoy quiero decierte que te ama“ – heute will ich dir gern sagen, dass ich dich liebe. Worauf also noch warten? Christiane Lutz

Alicia Keys:
„Keys“

Treue bedeutet ja nicht Langeweile. Alicia Keys ist glaubwürdig bei sich, ähnlich wie ihr Doppelalbum „Keys“ (Sony Music), die schlüssige Erbfolge nach dem vorangegangenen Album „Alicia“. Die inzwischen 40-Jährige holt aus gefundener Zen-Mitte diamantklare Gospel-Weisheiten, verzwickte Jazz-Harmonien und gewohnt lässiges Pop-Hauchen. Das Album will sich nicht zwischen Streetstyle und intimer Piano-Session entscheiden. Vinylknistern, jemand legt die Nadel auf die Platte, zündet Kerzen an, um in Baggy-Pants und Crop-Top die Arme umeinanderzulegen und Steady Blues zu tanzen. Das Konzept Alicia Keys am Klavier funktioniert damit selbst im verkopften Jahr 2021. Die selbsterklärte Queen braucht nicht viel Meta, nur großspurige Liebesschwüre. Und natürlich: babe, only you. Marlene Knobloch

Mastodon:
„Hushed and Grim“

„Hushed and Grim“ (Reprise Records) von Mastodon aus Atlanta ist die Doppel-LP des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, für alle, die entweder Progressive Rock oder mendelssohnartige Melodien oder schwere Metal-Riffs oder vertrackten Jazz oder Punk oder den Chorgesang von Requien oder ganz generell Überraschungen oder alles das zusammen zu schätzen wissen. Und hier steht mit Absicht Doppel-LP des Jahres. Doppel-CD wäre auch zulässig. Aber für Leute, die Streamingdienste wie zum Beispiel das besonders scheußliche Spotify nutzen, ist diese Musik zu schade. Für die ist eigentliche jede Musik zu schade. Diese aber ganz besonders. Peter Richter

Masha Qrella:
„Woanders“

„Wie soll ich dir das beschreiben? Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur.“ Das 70er-Jahre-Großstadtpoem, aus dem die Zeilen stammen, in ein jetztzeitiges Vocal-Dancefloor-Stück zu verwandeln, gehört zu den genialsten Ideen der Saison. Masha Qrella kannte man, wenn man sie denn kannte, bisher vor allem als Keyboarderin der Garagen-Soundscaper-Truppe Mina. Ihr Solo-Album „Woanders“ dokumentiert ein Bühnenprogramm, für das sie Gedichte des ost-westdeutschen Grenzgängers Thomas Brasch vertont hat. Was dabei herauskommt, ist bezaubernd bis atemberaubend: Braschs Verse über Entwurzelung und Widerstand werden in Qrellas aus Minimal-Indie, Techno und Sixties-Echos gespeisten Songs zu berührbaren Gestalten und kleinen Universen, als hätten sie nur darauf gewartet. Ein lyrisches Popalbum, mit dem man lange überwintern können wird. Joachim Hentschel

Floating Points & Pharoah Sanders: „Promises“

Die Paarung war so überraschend wie der Erfolg. Der Electro-Produzent und DJ Floating Points hatte sich mit dem Coltrane-Weggefährten und Brachialsaxofonisten Pharoah Sanders zusammengetan. Im Zusammenspiel mit dem 44 Jahre jüngeren Engländer und den Londoner Symphonikern zeigte der, wie hauchzart er spielen kann, bis hin zu einer Stille, in der schon der Fingersatz der Klappen und leises Murmeln die Musik ausmachen. „Promises“ (Luaka Bop) heißt das Werk in neun Sätzen, das die beiden für Elektronik, Saxofon und Orchester geschrieben haben. Bestimmendes Motiv ist ein kristallklarer Akkord, der einen sofort in seinen Bann zieht. Mangels Genre-Begriffen wurde das Album gerne als „Ambient Jazz“ in die entsprechenden Regale geräumt. Was viel interessanter bleibt, ist aber die Tatsache, dass der Erfolg der Kooperation einiges über den Zustand der kollektiven Psyche erzählt. Weil der nicht so gut war im zweiten Pandemiejahr, ist „Promises“ eine wunderbare Flucht in eine Welt, in der alles in Ordnung ist. Andrian Kreye

Team

Texte Jakob Biazza, Max Fellmann, Joachim Hentschel, Marlene Knobloch, Andrian Kreye, Juliane Liebert, Christiane Lutz, Jens-Christian Rabe, Peter Richter
Digitales Storytelling Jakob Biazza
Digitales Design Felix Hunger