Zeitgeschichte:Kämpfer, Richter, beinahe ein Spion
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Erst kämpft Fabian von Schlabrendorff im Widerstand gegen Hitler, später wird er Bundesverfassungsrichter. Dokumente aus dem Fundus des mächtigen FBI-Chefs J. Edgar Hoover zeigen: Nach dem Krieg bot sich Schlabrendorff dem amerikanischen FBI heimlich als Informant an - und blitzte ab.
Von Kim Björn Becker
Das Haus, in dem Fabian von Schlabrendorff sein Leben zum dritten Mal aufs Spiel setzen will, steht in einer dieser Straßen, die typisch sind für West-Berlin: Kopfsteinpflaster, breite Bürgersteige, Bäume auf beiden Seiten. In der Koblenzer Straße 8, einem Gebäude mit Rundbogenfenstern und verwinkeltem Eingang, lebt zu dieser Zeit, im Sommer 1955, der Publizist Ernst Niekisch - jener Mann also, über den Schlabrendorff etliche Jahre später in seinen Memoiren schreiben wird, er sei "der bedeutendste Mensch, der je in mein Leben getreten ist".
Das hat vielleicht auch etwas mit jenen Ereignissen des Jahres 1955 zu tun, die Schlabrendorff in seinen Erinnerungen auslässt und von denen auch nicht einmal seine Familie etwas wusste. In Niekischs Haus in West-Berlin will Schlabrendorff einen hohen Vertreter der sowjetischen Regierung treffen. Ziel der Operation: Informationen über die außenpolitische Strategie Moskaus sollen auf der anderen Seite des Atlantiks landen, genauer: in der Washingtoner Pennsylvania Avenue. Dort hat das FBI seinen Sitz.
Bislang geheim gehaltene Akten zeigen: Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs soll sich der einstige Widerstandskämpfer und spätere Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorff dem FBI insgeheim als Informant angeboten haben. Über seinen West-Berliner Freund und Mandanten Ernst Niekisch will er in Kontakt zu einem unmittelbaren Mitarbeiter des damaligen sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow treten und Informationen darüber an die Amerikaner weitergeben.
"Eine Sache von Leben und Tod"
Wer genau der Kontaktmann ist, bleibt auch Jahrzehnte später ungeklärt. Der Historiker Michael Pittwald hält es für wahrscheinlich, dass es sich dabei um Wladimir Semjonow gehandelt haben könnte, den damals stellvertretenden Außenminister der UdSSR und früheren Botschafter Moskaus in der DDR. Mindestens einmal im Monat, so heißt es, wollen sich beide bei Niekisch in der Koblenzer Straße treffen. Der Wiesbadener Rechtsanwalt Schlabrendorff als geheimer Informant des FBI - eine "Sache von Leben und Tod" soll er das genau geplante Unterfangen genannt haben. Auch einen Namen für die streng geheime Operation gab es schon: "Projekt Zebra".
Das alles geht aus einer etwa 50 Seiten umfassenden Akte hervor, die jahrzehntelang als Verschlusssache eingestuft und deshalb im "Confidential File Room" des FBI aufbewahrt wurde - jenem Raum streng geheimer Unterlagen, den FBI-Gründer John Edgar Hoover 1948 persönlich einrichten ließ. In dem Aktenraum, der tagsüber durchgehend bewacht und jeden Abend abgeschlossen wurde, sammelte Hoover - versteckt vor den Augen der amerikanischen Regierung und verborgen selbst vor dem Großteil seiner eigenen Behörde - alle Unterlagen, die er für besonders heikel hielt: Informationen über den Einsatz von Doppelagenten waren darunter, Details über sexuelle Eskapaden von Regierungsangehörigen, auch streng geheime Pläne zur biologischen Kriegsführung. Und eben die Akte Schlabrendorff.
Gemeinsam mit der Schweizer SonntagsZeitung und anderen europäischen Medien hat die Süddeutsche Zeitung jetzt Einblick in Hunderte bislang unveröffentlichte Akten überwiegend aus den 1940er und 1950er Jahren erhalten, die bislang im "Confidential File Room" des FBI unter Verschluss gehalten wurden.
Der Großteil der Akten liefert ein beeindruckendes Zeugnis davon, mit welcher Anstrengung die Agenten im technischen Labor des FBI zur Zeit des Zweiten Weltkriegs damit befasst waren, die Codes ausländischer Botschaftsdepeschen zu knacken. Bereits in den Vierzigerjahren - lange bevor Whistleblower Edward Snowden die Datensammelwut der NSA enthüllen konnte - betrieben die Vereinigten Staaten damit bereits ein umfassendes Abhörprogramm, dessen Ziel der gesamte diplomatische Nachrichtenverkehr fremder Staaten war. Dabei waren nicht nur verfeindete Achsenmächte Ziele, auch neutraler Länder wie die Schweiz und Norwegen.
Insgesamt 5393 Seiten umfassen die nun ausgewerteten Unterlagen - allein die Bemühungen des FBI, den deutschen Diplomatenfunk aus Südamerika zwischen Februar 1941 und Juni 1942 zu dechiffrieren, füllen mit 769 Seiten einen ganzen Ordner. Allerdings gelingt es den Agenten im Falle Deutschlands kaum, während des Krieges wirklich Brisantes aus dem herauszulesen, was zwischen dem Auswärtigen Amt in Berlin und einer der zahlreichen Auslandsvertretungen gekabelt wurde.
Abfotografierte Diplomatenpost
Bei der Entschlüsselung der Depeschen anderer Staaten hatten die Agenten hingegen mehr Glück: Nach Recherchen der Schweizer SonntagsZeitung gibt es in den Dokumenten Hinweise darauf, dass die Vereinigten Staaten die geschützte Diplomatenpost der Eidgenossen heimlich geöffnet und das darin enthaltene Material abfotografiert haben. Auf diese Weise soll das FBI auch an die Codebücher gelangt sein, mit deren Hilfe die verschlüsselten Depeschen lesbar gemacht werden konnten.
Wie viel Kapital die USA aus diesen Informationen schlagen konnten, zeigte sich schon kurz darauf: Bei den Verhandlungen zwischen Washington und Bern über den Ankauf deutschen Raubgolds kannten die amerikanischen Unterhändler das Höchstgebot der Schweizer - und verhandelten exakt so lange, bis es erreicht war.
Recherchen des italienischen Nachrichtenmagazins L'Espresso haben ergeben, dass die USA im Zweiten Weltkrieg selbst Opfer eines Spionageangriffs geworden sind - ausgerechnet die Briten sollen vertrauliche Diplomatenpost, die zwischen den Vertretungen und London und Lissabon verschickt wurde, abgefangen haben. Und noch etwas geht aus den Akten hervor: Das FBI spionierte gewiss oft meisterlich, doch in einigen Auslandsbüros machten die amerikanischen Agenten selbst plumpe Anfängerfehler. Bei einer internen Revision des Büros in Rom mahnte ein Analyst dringend zu mehr Vorsicht, wenn die Agenten Geschenke von Bekannten mit ins Büro bringen. Mitten im Kalten Krieg hatte ein Mitarbeiter folkloristische Holzfiguren auf seinem Schreibtisch platziert, die ihm ein "russischer Freund" geschenkt hatte. Immerhin: Kameras und Wanzen konnten selbst die FBI-Experten darin nicht finden.
Und dann ist da die Akte Schlabrendorff. Am 30. September 1955 berichtetet der stellvertretende Leiter des FBI, Clyde Tolson, seinem Vorgesetzten Hoover in einem internen Memorandum von einem Gespräch, das er jenem Tag mit einem demokratischen Kongressabgeordneten und einem Rechtsanwalt geführt habe, der in der Kanzlei des Abgeordneten arbeitet. Beide, der Abgeordnete und der Anwalt, heißen Boykin mit Nachnamen. Verwandt sind sie nicht.
Frank Boykin vertritt den Bundesstaat Alabama im amerikanischen Kongress. Und in seiner Washingtoner Kanzlei arbeitet zu jener Zeit ein Anwalt namens Lykes Boykin. Der war im Zweiten Weltkrieg Kampfpilot gewesen und hatte nach Kriegsende ein Jurastudium begonnen. Im Jahr 1954 lernte er auf einer Reise nach Deutschland in Frankfurt den Anwalt Fabian von Schlabrendorff kennen. Beide schrieben sich fortan regelmäßig und trafen sich Ende August 1955 erneut in Hamburg.
An diesem Tag sollen sie über den Plan Schlabrendorffs gesprochen haben, für das FBI zu spionieren.
Für den Historiker Peter Steinbach, Leiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte in Berlin, ist diese Nachricht so etwas wie eine kleine Sensation. "Es gab immer mal wieder Gerüchte, dass Schlabrendorff mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben könnte, aber niemals einen Beweis", sagt er. Über das Vorhaben setzte Schlabrendorff offenbar nicht einmal seine Familie in Kenntnis: "Das überrascht mich schon", sagt Dieprand von Schlabrendorff, der Sohn des 1980 verstorbenen Transatlantikers.
Eine "Sache von Leben und Tod" war die Operation für Schlabrendorff. Aus diesem Grund wollte er den Unterlagen zufolge auch keineswegs mit dem amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA zusammenarbeiten, dessen Direktor Allen Dulles er misstraute. Zu groß soll Schlabrendorffs Sorge gewesen sein, Dulles könne "etwas herausrutschen", wie es in der Notiz heißt. Das FBI hingegen habe "die beste Reputation in Sachen Geheimhaltung weltweit" und deshalb wolle Schlabrendorff an niemand anders berichten als an FBI-Chef Hoover persönlich. Dafür verlange der Informant kein Geld, allein die Reisekosten für die Fahrten zwischen Frankfurt und West-Berlin wolle er erstattet haben.
Zweifel an der "Operation Zebra"
Das Angebot Schlabrendorffs war beim FBI kaum aktenkundig, da begann innerhalb der Führung der Behörde schon eine Debatte darüber, wie mit der Offerte umzugehen sei. Am 4. Oktober schreibt ein Agent eine Stellungnahme zu dem Fall und warnt seinen Vorgesetzten Al Belmont, den damaligen Leiter der nachrichtendienstlichen Abteilung des FBI, davor, auf den Vorschlag Schlabrendorffs einzugehen. "Diese Operation ist klar außerhalb unserer Zuständigkeit", notiert er. Denn für Auslandsspionage sei eindeutig die CIA zuständig. Und der FBI-Agent hat noch mehr Zweifel: "Wir hätten keine Möglichkeit zu erfahren, ob die gelieferten Informationen richtig oder falsch sind." Damit, so heißt es, "würden wir den Ruf des Hauses auf die Verlässlichkeit von Schlabrendorffs und seiner Kontrolle über Niekisch bauen."
Schon einen Tag später, am 5. Oktober 1955, ist das "Projekt Zebra" beendet, bevor es überhaupt begonnen hat. Die FBI-Führung konstatiert, dass es in diesem Fall "nicht möglich" sei, sich "in dieser Sache zu engagieren". In der Pennsylvania Avenue werden noch ein paar Nachrichten ausgetauscht, bis das FBI die Akte Schlabrendorff zwei Monate später für immer schließt. "Dieses Büro", heißt es in einem Memorandum, "wird in dieser Sache keine weiteren Handlungen unternehmen."
Die FBI-Akten können Sie hier und hier als pdf-Datei herunterladen (>20MB).