Süddeutsche Zeitung

Wahlen in Tunesien:Hoffnung für die arabische Welt

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Freie Demokratie oder die Macht der Scharia? Vor den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung am Sonntag blickt die Welt gespannt nach Tunesien - dem ersten Land des Arabischen Frühlings. Die beliebteste und umstrittenste Partei ist die islamistische Nahda. Sie verspricht einen säkularen Staat nach türkischem Vorbild, doch Experten warnen vor ihrer Radikalität.

Lydia Bentsche

Blaue, wasserfeste Tinte prangt auf ihrem Zeigefinger. Zum ersten Mal in ihrem Leben steht die 35-jährige Basma in einer Wahlkabine. Mit einem Papier voller Namen und Logos. Und sie darf ein Kreuz setzen, sich frei entscheiden und das Papier in die Wahlurne werfen.

Dabei geht die Tunesierin eigentlich erst am kommenden Sonntag zum ersten Mal wählen. Basma hat als eine von etwa 60 Tunesiern an Test-Wahlen teilgenommen. "Ich fühle mich, als ob ich wirklich gewählt hätte", sagt sie nach dem Probelauf vor Journalisten. Jetzt sei sie bereit für die richtige Wahl.

Bereit sind viele Tunesier. Vor etwa neun Monaten gelang es dem Volk nach wochenlangen Protesten, Präsident Zine el-Abidine Ben Ali zu stürzen. Ihre Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit und demokratischer Teilhabe und ihr Protest gegen Arbeitslosigkeit und Korruption zeigten Erfolge. Mit ihnen begann der arabische Frühling.

Beflügelt vom tunesischen Erfolg kämpften auch Ägypter, Libyer, Syrer, Jemeniten und andere Völker in der arabischen Welt für ihre Rechte. Protestmärsche auf Kairos Tahrir-Platz und der blutige Krieg in Libyen zogen zwischenzeitlich alle Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt richtet sich der Blick wieder auf Tunesien, denn am Sonntag soll das kleine nordafrikanische Land den Grundstein seiner Demokratie legen: Die Tunesier wählen eine verfassungsgebende Versammlung.

Doch wer sind die Tunesier? Von den etwa sieben Millionen Wahlberechtigten haben sich nur 3,8 Millionen für die Wahl registriert. Auch ohne Registrierung dürfen sie am Sonntag teilnehmen, doch die ersten Zahlen zeigen: Nicht einmal ein Fünftel der jungen Tunesier zwischen 18 und 35 Jahren ist angemeldet und nur ein Achtel der Frauen. Dabei waren es doch gerade Arbeiter und junge Tunesier, die Ende 2010, Anfang 2011 auf der Straße lautstark mehr Freiheit forderten, nachdem sich der 26-jährige, von der Polizei schikanierte Obst- und Gemüsehändler Muhammad Bouazizi aus Verzweiflung selbst verbrannt hatte. Und die Bilder zeigten auch Frauen mit Kopftuch, die Seite an Seite mit unverschleierten Frauen gegen Ben Ali skandierten.

Ernüchterung und Unzufriedenheit machen sich breit

Einige dieser Tunesier sind vor dem Wahlsonntag nicht stolz und aufgeregt. Sie sind ernüchtert, enttäuscht, fühlen sich von keiner Partei vertreten und sehen ihre Wünsche nicht erfüllt. Seit der Revolution im Januar spüren sie keine Verbesserung ihrer sozialen Probleme.

Die Arbeitslosenrate liegt bei 19 Prozent, unter den jungen Tunesiern ist sie deutlich höher. Die Einnahmen der Tourismusbranche sanken in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zu 2010 um 40 Prozent. Unter der Übergangsregierung läuft der alte Staatsapparat weiter, die alte Ordnung scheint sich nicht zu verändern. Auch der Generationenkonflikt schwelt nach der Revolution weiter. Noch immer sitzen die Alten und nicht die Jungen an der Macht, Ministerpräsident Beji Cai del Sebsi ist 84.

Meinungs- und Pressefreiheit im Land haben sich seit Ben Alis Abgang erheblich verbessert, sagt Politikwissenschaftlerin Isabel Schäfer von der Berliner Humboldt Universität, die bis vor wenigen Wochen in Tunesien lebte. "Doch trotzdem kommt es weiterhin zu willkürlichen Festnahmen und in den Gefängnissen wird noch geschlagen und gefoltert, wenn man den einschlägigen Beobachtern wie Amnesty International glaubt."

Politische Freiheiten wurden gestärkt. Die neue tunesische Parteienlandschaft ist bunt, reicht von ehemaligen Kommunisten und Gewerkschaftern, die am Sturz Ben Alis beteiligt waren, über Liberale und Konservative bis hin zu Islamisten. Neue Parteien sind entstanden, alte erneuert worden. Ungefähr hundert Parteien und mehr als 11.000 Kandidaten stellen sich am Sonntag zur Wahl.

Trotz der Vielfalt hagelt es Kritik. "Der Wahlkampf hat sich zu einer Farce entwickelt", sagt Hamadi El-Aouni. Der Berliner Politikwissenschaftler, der in Tunesien geboren ist und seit 40 Jahren in Deutschland lebt, forscht zum Umbruch in der arabischen Welt und steht in ständigem Kontakt mit Familie und Freunden in seiner Heimat. El-Aouni vermisst im tunesischen Wahlkampf politische Diskussionen über die Zukunft des Landes. Die Parteien hätten keine Programme, in denen sie Themen in den Vordergrund stellten. Er kritisiert: "Es gibt nur Slogans."

Ein weiteres Problem: Die Ausgangsbedingungen für die Kandidaten sind nicht gleich, auch wenn die unabhängige Wahlkommission sich darum bemüht. Sie verbietet zum Beispiel Wahlspots und legt Größe und Platzierung der Wahlposter genau fest. Geldflüsse und Korruption kann sie aber nicht steuern. Kleine Parteien und unabhängige Kandidaten haben es schwer, gegen gut organisierte oder korrupte Kräfte anzukommen. Für manch jungen Tunesier womöglich ein Grund, gar nicht erst zu kandidieren.

Am besten aufgestellt ist die islamistische Nahda-Partei. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre unterdrückte Ben Ali die Partei und steckte tausende Mitglieder ins Gefängnis. Es wurde ruhig um Nahda, doch das Grundgerüst der Organisation blieb bestehen. Nach der Revolution im Januar, an der Nahda-Sympathisanten nicht maßgeblich beteiligt waren, wurde die Partei wieder zugelassen - und ist bis heute als einzige in ganz Tunesien präsent.

Um ihre Finanzen muss sie sich auch keine Sorgen machen. Geld erhalte sie von den Golfstaaten, allen voran von den Saudis, sagt El-Aouni. "Saudi-Arabien möchte die Revolutionen in Tunesien und Ägypten rückgängig machen. Wenn das nicht möglich ist, sollen die Islamisten an die Macht kommen." Die Nahda wirbt in Moscheen um Anhänger, verteilt im Namen der Partei lastwagenweise Schlachtlämmer für das bevorstehende Opferfest, Milch, Eier, Teigwaren und Tomatenmark an die tunesische Bevölkerung. Außerdem finanziert sie Hochzeiten, Kinderbeschneidungen und "Wahlreisen" in klimatisierten Reisebussen für die arme Bevölkerung, berichtet El-Aouni. Fairer Wahlkampf sieht anders aus.

Nahda, mit etwa 25 Prozent der Umfrage-Stimmen, ist die beliebteste und zugleich die umstrittenste Partei. Die einen halten sie für eine radikale, islamistische Partei, die Tunesien in einen muslimischen Gottesstaat unter der Scharia verwandeln möchte und Frauenrechte einschränkt. Die anderen sehen in Nahda die Verbindung von Islam und Modernität und hoffen, dass Tunesien sich unter der Partei zu einem freien, säkularen, moderat islamischen Staat nach türkischem Vorbild entwickelt.

Säkulare und islamistische Gruppen bekriegen sich im Internet

Im Gegensatz zu anderen islamistischen Gruppen verspricht Nahda-Führer Rachid al-Ghanouchi, der nach 22 Jahren aus dem britischen Exil zurückgekehrt ist, Menschenrechte zu wahren und, wie unter anderem die New York Times berichtet, in einer Koalition mit anderen politischen Kräften ein demokratisches Tunesien zu schaffen. Die türkische Regierungspartei AKP sei Vorbild der Nahda. Während radikale Salafisten erst in der vergangenen Woche wegen der Ausstrahlung des Films Persepolis randaliert hatten, in dem Allah als alter, bärtiger Mann dargestellt wird, verurteilte Nahda die Gewalt, sprach sich aber gleichzeitig gegen Angriffe auf heilige Symbole aus.

Auch im Netz tobt vor der Wahl der Meinungskampf. Säkulare und islamistische Gruppen bekriegen sich bei Facebook und YouTube mit Videos, in denen sie eine schreckliche Zukunft im jeweils anderen System beschwören.

"Die Nahda ist eine radikal-islamistische Partei, sie täuscht Mäßigkeit nur vor", sagt Experte El-Aouni. "Man muss sich vor ihren Spielchen in Acht nehmen." Politikwissenschaftlerin Schäfer befürchtet allerdings keine plötzliche "islamische Revolution" durch die Nahda, dies verhindere allein schon das Verhältniswahlrecht. Die Islamisten müssten in der verfassungsgebenden Versammlung mit anderen, womöglich sehr vielen Parteien und Kandidaten eine Koalition formen und würden nicht allein über Tunesiens Zukunft entscheiden.

Sind die ausgeprägten tunesischen Frauenrechte in Gefahr?

Schäfer sieht allerdings die Gefahr "einer schleichenden konservativen Strömung in der Gesellschaft und den politischen Entscheidungsprozessen". Und damit einer schrittweisen Rücknahme der ausgeprägten Frauenrechte. Das wäre ein harter Schlag für die Tunesierinnen. In keinem anderen arabischen Land sind Frauenrechte so ausgeprägt wie bei ihnen, berichtet unter anderem der Economist.

Polygamie ist verboten, Verhütung und Abtreibung legal, bei Scheidungen stehen Frauen und Männern gleiche Rechte zu. Ben Ali führte das Erbe seines Vorgängers Habib Bourguiba fort, förderte Frauen in Bildung und Arbeitswelt. Heute können 95 Prozent der jungen Tunesierinnen lesen und schreiben, fast zwei Drittel der Studierenden sind Frauen.

Auch die tunesische Wahlkommission hatte die Frauenrechte im Blick: Nur Parteien, die Frauen auf ihre Wahllisten setzten, dürfen teilnehmen. Ganz oben steht jedoch fast immer ein Mann. Wie die Nahda tatsächlich zu Frauenrechten steht, wird sich erst nach den Wahlen zeigen.

In Umfragen liegen die Demokratische Fortschrittspartei PDP, ehemalige Oppositionspartei unter Ben Ali, und die sozialdemokratische Ettakatol mit 16 und 14 Prozent der Stimmen hinter Nahda. Wie viel Verlass auf die Umfragen vor der ersten freien Wahl in Tunesien ist, bleibt abzuwarten: 44 Prozent der Befragten waren sich bei der Erhebung noch nicht sicher, welche Partei oder welchen Kandidaten sie wählen.

Der Blogger und Autor Hassen Trabelsi aus München weiß dagegen schon, dass er einem alten Freund in der Nahda-Partei seine Stimme geben wird, einem der 15 Kandidaten aus Deutschland. "Unglaublich" sei es, dass er jetzt, mit 43 Jahren, zum ersten Mal an tunesischen Wahlen teilnehmen darf. Und das, obwohl er seit 1992 in Deutschland im Exil lebt.

Tunesier im Ausland dürfen ihre Stimme abgeben, sofern mindestens 60.000 Landsleute in ihrem Aufenthaltsland leben. In Deutschland sind es etwa 80.000. Sie dürfen einen Platz der 217-köpfigen verfassungsgebenden Versammlung bestimmen und damit am Aufbau eines neuen Tunesiens mitwirken. "Ein freies Tunesien mit Menschenrechten, politischen Freiheiten und Meinungsfreiheit", sagt Trabelsi. Im März und August reiste er in sein Heimatland, besuchte seine Familie und sprach mit Nahda-Kandidaten. "Ich hatte einen guten Eindruck", sagt er. "Sie versprechen, dass sie ein demokratisches Tunesien mitaufbauen und die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen."

Politikwissenschaftler El-Aouni blickt dagegen mit Sorge auf die Wahlen am Sonntag. "Die Reaktionen werden schlimm sein, wenn die Wahlen so ausgehen, wie ich befürchte", sagt er. "Viele werden sich nicht mit der Nahda und Anhängern des alten Regimes abspeisen lassen, sie werden wieder auf die Straße gehen." Bereits in den vergangenen Wochen und Monaten sei in Tunesien immer wieder demonstriert worden. Sowohl tunesische als auch westliche Medien hätten jedoch wenig darüber berichtet.

Wenn die Tunesier mit den Parteien und dem politischen System unzufrieden sind und tatsächlich wieder protestieren, für echten demokratischen Wandel weiterkämpfen, sieht El-Aouni mittelfristig jedoch gute Chancen für das Land. Dabei kommt auch der Armee eine entscheidende Rolle zu. Nur wenn sie weiterhin auf Seiten der Revolutionäre steht, kann der Wandel gelingen.

So oder so - für die arabische Welt haben die Wahlen in Tunesien Symbolcharakter. Eine wichtige Frage wird sein: "Islamisten ja oder nein - und wie reagiert der Westen darauf?", sagt Politikwissenschaftlerin Schäfer. Viele Araber würden sich noch mit Schrecken daran erinnern, wie der Westen beim Hamas-Sieg im Gazastreifen reagierte. USA und EU starteten einen politischen und finanziellen Boykott, strichen Finanzhilfen und verhängten Kontaktsperren gegen Hamas-Mitglieder.

Freie, faire, gewaltfreie Wahlen wären Zeichen und Hoffnung für die Ägypter

Viel hängt auch davon ab, ob die Wahlen am Sonntag wirklich frei, fair und friedlich ablaufen. "Die Chancen dafür stehen ja sehr gut", sagt Schäfer. Tunesische und internationale Wahlbeobachter sollen vor Ort sicherstellen, dass alle Regeln eingehalten werden. Eine gewaltfreie Abstimmung würde besonders für Ägypten ein Zeichen setzen, wo im November Wahlen anstehen, die Lage jedoch noch unruhiger ist als in Tunesien und die Demokratiebewegung derzeit stockt.

"Wenn Tunesien und Ägypten den demokratischen Wandel nicht zum Erfolg bringen, würde sich das sehr negativ auf die anderen arabischen Völker auswirken, die derzeit noch um ihre Freiheit kämpfen", sagt auch El-Aouni. Die beiden Völker würden durch einen Misserfolg ihre Funktion als Hoffnungsträger verlieren. "Daraus könnten die lokalen und regionalen kontra-revolutionären Kräfte neue Hoffnungen auf eine Wiederherstellung des alten Status schöpfen."

Genau dies dürfe nicht geschehen. Ein Erfolg am Sonntag in Tunesien wäre ein weiteres sichtbares Gegengewicht zur despotischen Allianz in Arabien. Und ein weiterer Schritt in Richtung Freiheit. Vielleicht könnten dann bald auch andere Araber stolz mit blau gefärbtem Zeigefinger ein Wahllokal verlassen.

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