Süddeutsche Zeitung

Wahl:"Wach auf, Kasachstan"

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Am Sonntag bekommt das Land einen neuen Präsidenten - der Sieger steht schon fest. Junge Menschen begehren nun auf.

Von Silke Bigalke, Almaty

Sie erinnert sich genau an den Tag, an dem Nursultan Nasarbajew seinen Rücktritt verkündete. Lejla Machmudowa saß mit Freunden im Restaurant, doch niemand traute sich recht, über die Nachricht des Jahrzehnts zu sprechen. "Er geht", hatte eine Freundin ihr leise zugeflüstert. Nursultan Nasarbajew hat Kasachstan 29 Jahren lang autoritär regiert. Lejla Machmudowa ist 26 Jahre alt, hat nie einen anderen Präsidenten erlebt. Sie war aufgeregt, glücklich, aber auch wütend, weil er sein Volk vor vollendete Tatsachen stellte. Mit ihren besorgten Freunden konnte sie darüber nicht reden. "Über Politik zu diskutieren, ist grundsätzlich nicht sicher."

Ein paar Tage vor den Wahlen sitzt Lejla Machmudowa in einem Café in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, und spricht laut über alles, was sie ärgert. Darüber etwa, dass das am Sonntag wieder keine echte Wahl sein wird, weil der Gewinner längst feststeht. Es wird Kassym-Schomart Tokajew, ihm hat der alte Präsident im März sein Amt übergeben. Nursultan Nasarbajew bleibt Parteichef und Chef des Sicherheitsrates, kaum eine Entscheidung kann ohne ihn getroffen werden. "Wir sind wieder reingelegt worden", sagt Lejla Machmudowa. "Es gibt keinen Wandel."

Manche junge Leute halten Plakate hoch. Das reicht schon, um festgenommen zu werden

Vor allem junge Leute protestieren nun in einer Weise, die es so noch nie gab im Land. Sie halten Plakate hoch und werden dafür festgenommen. Sie treffen sich zu Diskussionen und werden beschattet. Sie versammeln sich im Internet unter Hashtags wie #IchHabeDieWahl, stellen kritische Videos online und dokumentieren, wenn der Geheimdienst sie verfolgt. Die Öffentlichkeit des Internets schützt sie, jedenfalls solange die Regierung es nicht abschaltet, was schon passierte. Mehrere Straßenproteste hat die Polizei aufgelöst. Zu denen kommen nie mehr als einige Hundert Leute. Doch die harte Reaktion der Regierung macht sie umso sichtbarer.

Neben Lejla Machmudowa auf dem Café-Sofa sitzt Dilda Ramasan, 25, Kunst-kuratorin. Sie war auf Dienstreise in Dubai, als der Präsident zurücktrat. "Ich war superglücklich", sagt sie, "ich hätte mir nie vorgestellt, dass ich so jung sein würde, wenn er geht." Doch bereits am nächsten Tag verkündete Nasarbajews Nachfolger, Tokajew, er werde die Hauptstadt Astana in Nursultan umbenennen, zu Ehren des alten Autokraten. Dessen Tochter Dariga wurde Vorsitzende des Oberhauses. Der Rücktritt soll letztlich die Macht des Clans eines alternden Präsidenten sichern. "Tokajew, als Mensch dieses Clans, verteidigt dessen Interessen", sagt Galym Ageleuow, Menschenrechtler und Politikexperte in Almaty. Er nennt das Regime eine "repressive Maschine, die sich nicht reformieren lässt, wenn das Volk sie dazu nicht zwingt".

Die Zahl der Aktivisten ist überschaubar. Das erste Plakat hielten zwei bei einem Marathon im April in Almaty hoch: "Vor der Wahrheit kannst du nicht weglaufen." Sie wurden festgenommen und zu 15 Tagen Haft verurteilt, für viele war das der Anfang. Bei den Gerichtsverfahren versammelten sich Unterstützer, trafen sich auch danach spontan zu einer Diskussion im Theater. 600 Menschen kamen, erzählt Machmudowa, die den Raum organisiert hatte. Die Theaterdirektorin bekam Anrufe von der Polizei, mittendrin fiel das Licht aus. "Ich denke, die Behörden sind eingeschüchtert", sagt Lejla Machmudowa.

Ein Mann in Almaty hängte ein Banner auf, mit einem Zitat der Verfassung, der Macht des Volkes - er wurde festgenommen. Ein Mann in Uralsk hielt ein leeres Schild hoch - und wurde festgenommen. Eine junge Frau in Nursultan tat nur so, als halte sie ein Schild hoch. Sicherheitskräfte zerrten sie aus einem Bus, sie rief um Hilfe, beschreibt es Schanbota Alschanowa. "Es war schrecklich, aber noch schrecklicher war, dass niemand mir half." Nach einigen Stunden war sie wieder frei.

Nursultan sechs Tage vor der Abstimmung: wenige Wahlplakate, dafür überall der alte Name Astana auf Plakaten und Bauzäunen. Astana ist eine konstruierte Stadt mit bunten, futuristischen Bauten. Alimschan Isbassarow, 23, kommt mit seiner Mutter zum Treffen. Damit er nicht mitgenommen wird, geht er nie allein vor die Tür. Im Café nennt der die Umbenennung eine Schande. "Alle haben über uns gelacht, sogar Nordkorea." Von sieben Kandidaten für die Wahl unterstützt nur einer nicht die Regierung. Alimschan Isbassarow möchte die Abstimmungen boykottieren, ist im Mai mit Demonstranten durch die Stadt gezogen. "Wach auf, Kasache", habe er gerufen. Dann hätten Polizisten auf sie eingeschlagen, er kam 15 Tage ins Gefängnis. Jetzt möchten sie ihn in die Armee stecken. Es gilt Wehrpflicht, aber derzeit werden mehr junge Leute eingezogen als üblich, vor allem wenn sie politisch aktiv sind, bestätigen Menschenrechtler. Isbassarows letzte Hoffnung sind Arztatteste, die ihn vielleicht vom Dienst befreien.

Am Mittag trifft sich im Zentrum eine Gruppe von Müttern. Sie protestieren, weil es an allem fehlt, sie Wohnungen, Essen und Ausbildung nicht bezahlen könnten. Im Februar starben fünf Mädchen bei einem Brand in Nursultan, ihre Eltern mussten nachts arbeiten. Die Regierung hält sich den Müttern gegenüber zurück. Doch als etwa 20 Frauen über den Platz auf den Präsidentenpalast zugehen, kreisen Soldaten sie ein. Wer in den Kessel gerät, bekommt ein Gefühl dafür, was es heißt, hier zu demonstrieren. Der Bürgermeister spricht mit den Frauen, Regierungsmitarbeiter wollen sie beruhigen. Sie möchten vor der Wahl keine Bilder weinender Mütter.

Vor der Militärkommission warten 20 Unterstützer auf Isbassarow. Er hat Röntgenbilder von seinem Fuß dabei, umarmt viele Wartende. Morgens im Café sprach er von 1000 Aktivisten in der Hauptstadt. "Ich kann zehn Menschen zu einer Kundgebung bringen." Wenn das jeder Aktivist mache, seien das 10 000 Menschen. Passiert ist das noch nicht. Als er zum Eingang geht, wirkt er weniger kämpferisch.

Vorwürfe, das Votum seien nicht frei, tut der Parteisekretär ab

Nach einer halben Stunde kommt er wieder heraus, muss zur Sammelstelle für Wehrpflichtige, dort soll es die Entscheidung geben. Seine Anhänger fahren mit. Er verabschiedet sich vorsichtshalber von seinen Schwestern, der Mutter. Er weiß nicht, dass sie ihn noch mal rauslassen werden für einen Arztbesuch. Zwei Tage später wird er eingezogen, trotz aller Gutachten. Videos im Internet zeigen ihn bei der Abschiedszeremonie auf dem Militärgelände, Alimschan Isbassarow mit rasiertem Kopf. Er hält eine kurze Rede, sagt, er werde sein Land verteidigen. Zuvor sprach er davon, als Rekrut über Rechtsverletzungen beim Militär zu berichten.

Die regierende Nur-Otan-Partei hat ihre Zentrale in einem großen blau-weiß gestreiften Gebäude. Zum Büro von Parteisekretär Farchad Kuanganow führt ein gläserner Aufzug, die Stadt leuchtet durch die Fenster. Er erwarte, dass sie die Wahl gewinnen, sagt der Parteisekretär. Wie hoch? "Ich weiß, dass es mehr als die Hälfte ist, die Mehrheit der Stimmen." Er spricht von den Grundsätzen ihres Kandidaten, der erste lautet Kontinuität. Vorwürfe, die Wahlen seien nicht frei, tut er ab.

In Almaty haben Lejla Machmudowa und ihre Mitstreiter zu einer Pressekonferenz eingeladen. Machmudowa sitzt mit fünf Aktivisten auf dem Podium, sie sagen Sätze wie "Wir erkennen kontrollierte Wahlen und ihr Ergebnis nicht an". Sie kritisieren Korruption und Menschenrechtsverletzungen, fordern mehr Meinungsfreiheit und weniger Macht für den Präsidenten. Sie gründen eine Bewegung, keine Partei. Sie heißt: "Oyan, Qazaqstan", das bedeutet "Wach auf, Kasachstan".

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SZ vom 08.06.2019
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