Süddeutsche Zeitung

Vorratsdatenspeicherung:Raus aus dem Grundrechtshalbschlaf

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Wie es aussieht, werden die EU-Richter mit der Kraft der Grundrechte die bisherige Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zerreißen. Sie werden, hoffentlich, die weichen Vorgaben des EU-Generalanwalts noch härter und schärfer machen.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Der Halbschlaf ist beendet. Der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg erwacht. Viele Jahre lang hat er sich als Wirtschaftsgerichtshof verstanden. Er war ein Gerichtshof, der Freiheit ziemlich eng auslegte: Freie Bahn für den Warenverkehr, freie Bahn für den Kapitalverkehr, freie Bahn der Dienstleistungsfreiheit. Die Richter am Kirchberg in Luxemburg erweckten den Eindruck, Europa sei weniger das Europa der Bürger, sondern vor allem das Europa der Kaufleute, Manager, Banken und Handelsvertreter.

Advent der Grundrechte

Das ändert sich gerade: Die europäischen Richter entwickeln Sensibilität für die europäischen Grund- und Bürgerrechte. Diese europäischen Grund- und Bürgerrechte beginnen zu leben und Kraft zu entfalten, weil die Richter erkennen, dass ein Europa ohne starke Grundrechte ein schwaches Europa ist. Mit der Kraft der europäischen Grund- und Bürgerrechte können Europas Richter die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) zerreißen - wenn sie sich wirklich trauen, wenn sie dem Antrag des Generalanwalts (wie es üblich ist) folgen, und wenn sie (wie es geboten ist) über diesen Antrag noch hinausgehen.

Bei der mündlichen Verhandlung über diese Vorratsdatenspeicherung im Juni 2013 standen die EU-Richter unter dem Eindruck der monströsen geheimdienstlichen Zugriffe auf Telekommunikation und Internet. Sie stellten kritische Fragen über Sinn und vor allem Unsinn der von der EU-Richtlinie diktierten, umfassenden staatlichen Datensammelei und Speicherei auf Vorrat. Beobachter sprachen von einer spektakulären, ja revolutionären richterlichen Skepsis.

Diese Skepsis gegen die derzeit in Europa praktizierte VDS setzt sich nun im Votum des Generalanwalts fort. Er hält die bisherige EU-Richtlinie schlicht für grundrechtswidrig; sie soll allenfalls noch für eine Übergangszeit gelten. Die Vorgaben, die der Generalanwalt für eine neue, grundrechtskonforme EU-Richtlinie macht, sind allerdings ziemlich weich, zu weich. Sie setzen der Speicherei keine ausreichenden Schranken.

Das werden nun die Richter tun müssen - in ihrem bevorstehenden Urteil. Wenn die EU-Richter nicht wieder in ihren Grundrechtshalbschlaf verfallen, ist genau dies zu erwarten: Die EU-Richter in Luxemburg stellen sich dann neben die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe, die schon im März 2010 ein markantes Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung gefällt haben. Und die zwei großen Gerichte stehen dann grundrechtsschützend neben dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg: ein starkes Trio wäre das; das wäre eine stabile grund- und bürgerrechtliche Achse Luxemburg-Karlsruhe-Straßburg.

Große Koalition soll auf das Urteil der EU-Richter warten

Wenn das Luxemburger Urteil die EU-Richtlinie für grundrechtswidrig erklärt, wie dies zu erwarten ist, bricht das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU gegen Deutschland angestrengt hat, in sich zusammen - weil das Urteil auf den Tag des Erlasses der Richtlinie zurückwirkt. Dann wäre keine Richtlinie umzusetzen gewesen, also hätte sich Deutschland auch keines Vertragsverstoßes durch Nichtumsetzung schuldig gemacht, weil man nach dem Karlsruher Urteil von 2010 kein neues Datenspeicherungsgesetz mehr gemacht hat.

Die Nachrichten vom Luxemburger Gericht sind ein Abschieds- und Weihnachtsgeschenk für die scheidende Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP. Sie hat gegen die Vorratsdatenspeicherung gekämpft wie eine Löwin. Man wünscht sich, dass jetzt nicht ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger (mutmaßlich von der SPD) anstelle des Luxemburger Gerichts in einen Grundrechtsschlaf verfällt. Die Koalitionsvereinbarung zur raschen Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung gehört sofort gestrichen. Die deutsche Politik muss auf das Urteil des EU-Gerichtshofs und auf eine neue, eine geänderte, vielfach verbesserte EU-Richtlinie warten.

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Quelle:
SZ vom 13.12.2013
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