Süddeutsche Zeitung

Verfolgte Minderheiten im Irak:Letzte Zuflucht Kurdistan

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Das Vertrauen in die muslimischen Nachbarn ist erschüttert, die Angst vor einer unsicheren Zukunft groß: Eine Million Menschen sind vor den Dschihadisten ins irakische Kurdengebiet geströmt, hausen dort in Flüchtlingsunterkünften. Und die Kurden sagen: Wir brauchen mehr Waffen.

Von Sonja Zekri, Erbil

Sie hatten auf ihren Bischof gehört. Vertraut euren Nachbarn, hatte er gesagt, als der Tod näher rückte. Ihr kennt sie. Sie kennen euch. Sie kannten sich nicht. 5000 Dollar vertrauten Fallah und Sahira Samir Kamel ihren Bekannten an. Sie sind Christen, ihre kleine Tochter ist zweieinhalb Jahre alt. Sie lebten in Mossul.

Jetzt hausen sie auf dem Boden vor der St.-Joseph-Kirche in Ainkawa, dem Christenviertel von Erbil. Ohne Geld. Denn der Bischof irrte. Als die Gotteskrieger in Mossul einfielen, eine Stadt mit 30 Kirchen und Klöstern und der größten christlichen Bevölkerung des Irak - da wurden Nachbarn zu Feinden. "Wir vertrauten ihnen Geld, Gold, Dokumente an. Sie gaben es nicht mehr heraus", sagt Fallah. Die Nachbarn, sunnitische Muslime, Araber, plünderten und rafften. "Wir wollen zurück", sagt Fallahs Frau Sahira: "Aber wie sollen wir je wieder mit diesen Menschen zusammenleben?" Wer schützt uns?"

Wer schützt die Christen im Irak? Wer schützt die Jesiden? Schiiten, Sunniten aus Anbar, Syrer - Menschen aus allen möglichen Regionen haben sich in den vergangenen Monaten zu den Kurden im Nordosten des Irak geflüchtet, erst unter dem Druck des syrischen Bürgerkrieges, dann auf der Flucht vor der Verfolgung durch die irakische Regierung, schließlich durch den Ansturm der IS-Milizen. Seit diese weiter vorgerückt sind und inzwischen eine Stunde vor der Provinzhauptstadt Erbil stehen, geht es mindestens so sehr um das Überleben des Kurdengebietes wie um die ganze konfessionelle Vielfalt des Landes.

Eine Million Flüchtlinge sind im irakischen Kurdengebiet

Im Hof der St.-Joseph-Kirche in Ainkawa stapeln sich Matratzen und verpackte Kühlschränke. Es gibt improvisierte Zelte. Männer köcheln Suppe in einem Topf so groß wie ein Lastwagenreifen. Ein Priester schneidet einem Flüchtling die Haare. Kleinkinder schwitzen bei mehr als 40 Grad, die kleine Raged hat von der Hitze Ausschlag auf dem Rücken. 700 Familien werden hier versorgt. Eine Million Flüchtlinge sind ins irakische Kurdengebiet geströmt. Ein uraltes Geflecht sozialen und konfessionellen Nebeneinanders ist zerrissen.

"Das Problem ist der Islam", schimpft Daud Matischaraf, syrisch-orthodoxer Bischof aus Mossul, auch er wurde vertrieben. Der Geistliche ist eine imposante Erscheinung, eine wuchtige, rotgesichtige Gestalt in schwarz-rotem Gewand mit Kreuz, glänzender Kappe und Riesenstab, er ist mit zwei anderen Bischöfen nach Erbil gekommen, um Besuch aus dem Vatikan zu empfangen, und er hält wenig von Kompromissen: "Im Koran steht, dass Muslime sich alles von uns nehmen dürfen, Geld, Häuser, Frauen, selbst unsere Würde. Ich respektiere die Muslime, aber nicht ihren Glauben."

Extreme Zeiten schaffen extreme Ansichten. Auch der chaldäische Erzbischof von Erbil, Baschar al-Warda, Hausherr in St. Joseph, gibt zu, es sei gewiss eine ungewöhnliche Bitte für einen Geistlichen, aber er wünsche sich ein militärisches Eingreifen: "Es geht um die Verteidigung von Leben, von Glauben und alles dem, was in Kurdistan in zehn Jahren an religiösem Miteinander erreicht worden ist." Der Westen solle sich nichts vormachen, so die Priester: Die sunnitischen Milizen des Islamischen Staates bedrohen nicht nur den Irak, sondern die ganze Welt. Deshalb brauche Kurdistan Waffen. So hört man es oft in Erbil, und so hört es auch Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin, Kurdistan lange in Freundschaft verbunden und nun im Irak, um ihre Solidarität zu zeigen und mehr humanitäre Hilfe zu fordern.

Bagdad hat seit Januar kein Geld mehr überwiesen, weil es mit der kurdischen Autonomieregierung im Streit lag. Nun, mit einem neuen Regierungschef könnte es besser werden, hoffen die Kurden. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Man müsse Flüchtlingslager einrichten, am besten Häuser, die bisherige Hilfe der UN reiche bei Weitem nicht aus. Innenminister Karim Sindschari bittet auch um Hubschrauber, um die eingeschlossenen Jesiden auf dem Sindschar-Berg zu evakuieren: Noch immer seien dort mindestens 10 000 Menschen eingeschlossen.

Vor allem aber, so sagen es Parlamentssprecher Jussuf Mohammed und sein Stellvertreter Dschafar Hadsch Eminki, brauche man Waffen, keine Kalaschnikows, sondern Raketenwerfer: "Die Milizen greifen in Humvees an und wir haben nur Pick-ups." Die kurdischen Peschmerga-Milizen können mit den IS-Truppen fertig werden, wenn sie nur anständige Waffen und Munition bekommen. "Erst müssen wir die Gebiete befreien und sichern. Dann könne wir die Menschen wieder zurückbringen", so Parlamentssprecher Mohammed. Mehr noch: Die Radikalen strebten einen Machtbereich an, der von Spanien bis Pakistan reiche, warnen sie. Die Freiheit des Westens, könnte man sagen, wird auch in Kurdistan verteidigt.

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SZ vom 14.08.2014
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