Süddeutsche Zeitung

Verdun:Besuch bei Europas dunklen Geistern

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Während der Nationalismus eine Wiedergeburt erlebt, treffen sich Merkel und Hollande in Verdun zur Gedenkfeier. Gut so: Die Erinnerung an die blutige Vergangenheit des Kontinents ist gerade heute wichtig.

Von Hubert Wetzel

Die Toten brauchen Platz. Ein gewaltiges Gräberfeld breitet sich auf dem Thiaumont-Rücken aus, einem jener Höhenzüge, um die in der Schlacht von Verdun so erbarmungslos gekämpft wurde. Kreuz an Kreuz steht dort, unter jedem liegt ein französischer Soldat, geehrt mit dem Titel "Mort pour la France", gefallen, als er seine Heimat gegen die Deutschen verteidigte. Kreuz an Kreuz - und doch passten gerade einmal 16 000 Tote auf den Friedhof, ein kleiner Teil der Männer nur, die vor 100 Jahren in Verdun gestorben sind. Als nach dem Krieg immer mehr zertrümmerte Skelette aus der Erde gegraben wurden, baute man ein Beinhaus und schaufelte alle Knochen hinein - französische, deutsche, die Überreste von 130 000 Mann, und auch das waren noch längst nicht alle, die gefallen waren. Dort ruhen die einstigen Feinde seitdem beieinander, ein grausiges Gewirr aus Schädeln und Rippen.

Das ist die Kulisse, vor der sich an diesem Sonntag der französische Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen, um der Schlacht von Verdun zu gedenken. Von Februar bis Dezember 1916 gingen sich Deutsche und Franzosen dort an die Gurgel. Etwa 300 000 Männer starben, Hunderttausende wurden an Leib und Seele verwundet. Noch immer ist die Schlacht von Verdun der Inbegriff des modernen, industriellen, massenmörderischen Krieges.

"Nie wieder Verdun"

Zugleich aber wurde Verdun auch zu einem der Fundamentsteine, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg das neue Europa errichtet wurde. "Nie wieder Verdun", nie wieder ein Krieg zwischen Deutschen und Franzosen, der ganz Europa ins Verderben reißt - dieses Versprechen war für die damals Beteiligten ebenso wichtig wie der Schwur "Nie wieder Auschwitz". Verdun war wie ein schwarzer Schlund, in den die Europäer gestarrt und in dem sie sich - wenn auch erst eine Generation später - schaudernd selbst erkannt hatten: ein Kontinent voller Völker, die sich mit Hurra-Geschrei umbrachten. "Jeder Infanterist muss durchdrungen sein, dass er persönlich dem Vaterlande hilft, wenn er einen Gegner umlegt", wies ein deutscher General 1916 vor Verdun seine Soldaten an und galt damit nicht als geisteskrank, sondern als schneidig.

Europas Lehre aus zwei Weltkriegen war: Ohne die Überwindung von Nationalismus und Völkerhass, die einst nach Verdun geführt und dort einen ersten blutigen Gipfelpunkt erreicht hatten, lässt sich kein dauerhafter Frieden in Europa schaffen. Und der einzige Weg, um diese Übel zu besiegen, ist der, etwas Europäisches an die Stelle des Nationalen zu setzen. Und so begannen die Europäer nach dem zweiten großen Krieg die Einigung, anstatt auf Rache zu sinnen. Das war keine Friedensduselei, sondern der höchst rationale Versuch, Krieg praktisch unmöglich zu machen - Frieden zu garantieren, anstatt wieder nur auf Frieden zu hoffen.

Es ist heute eine Plattitüde, die friedensstiftende Wirkung der europäischen Einigung zu erwähnen. Seit 70 Jahren lebt Europa in Frieden, er ist selbstverständlich geworden, niemanden kümmert es mehr, wie es dazu kam. Insofern ist es gut, wenn Hollande und Merkel daran erinnern, wie brutal es einst auf dem Kontinent zuging; nicht in finsterer Vorzeit, sondern vor ein paar Jahrzehnten noch, als die Großväter jung waren und singend in den Kampf gegen ihre Nachbarn zogen. Vielleicht macht die Erinnerung an derlei Irrsinn ja einige der Leute nachdenklich, die heute so abfällig über das geeinte Europa reden.

Das gilt umso mehr, als das Nationale - und der es begleitende Hass - derzeit in Europa in vielerlei Formen eine furchterregende Renaissance erleben. Die Vorstellung eines Volkes, mehr wert zu sein als andere Völker, hat Europa nie gutgetan. Am schwersten litt der Kontinent unter dem deutschen Nationalwahn, doch Krieg zu führen im Namen der Nation, war keine deutsche Besonderheit. Der gewaltsame Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien in Nationalstaaten ist gerade 20 Jahre her. Frankreichs früherer Präsident François Mitterrand, der selbst einen Krieg erlebt hatte, wusste durchaus, wovon er sprach: "Le nationalisme, c'est la guerre."

Man kann die Welle des Nationalismus, die derzeit über Europa rollt, daher als ein großes, gefährliches Experiment sehen: Wenn Nationalismus einst das Triebmittel für Europas Kriege war - kann Europa dann zum Nationalismus zurückkehren, ohne dass auch der Krieg wiederkehrt?

Schlachten wie die von Verdun wird es in Europa nie wieder geben. Diese Art, Krieg zu führen, ist vorbei. Und die Kriegstreiber von damals waren von anderem Kaliber als die Europaverächter und Rechtspopulisten von heute. Deren Mut beschränkt sich zumeist darauf, gegen Wehrlose zu hetzen. Aber dass der Frieden in Europa eben nicht ewig und selbstverständlich ist, weiß man, seit Russland sein nationales Erwachen mit militärischen Mitteln betreibt.

Manchmal lernen Menschen aus den alten Fehlern, manchmal nicht

Es ist kaum vorstellbar, dass Bürger Europas je wieder übereinander herfallen. Aber ist es deswegen unmöglich? Was passiert, wenn die Menschen in Europa irgendwann nicht mehr Europäer sind, sondern wieder nur Angehörige dieses oder jenes Volkes? In welche Abgründe folgen sie, wenn autoritäre, nationalistische Führer sie mit all ihren falschen Träumen, Mythen und Heilsversprechen aufpeitschen?

Niemand weiß es. Doch man hat, um die Zukunft zu erahnen, nur das Wissen über die Vergangenheit. Und die war dunkel. Manchmal lernen Menschen aus den alten Fehlern, manchmal nicht. Auch das kann man in Verdun besichtigen: Auf dem Friedhof liegen neben den 16 000 Toten aus dem Ersten Weltkrieg auch einige französische Soldaten, die 1940 fielen, als die Deutschen Verdun zum zweiten Mal binnen einer Generation angriffen.

Ließe man die 300 000 Gefallenen von Verdun in Reihen zu je sechs Mann antreten, und ließe man sie dann an sich vorbeimarschieren, alle zwei Sekunden eine Reihe, so würde diese Geisterparade 28 Stunden dauern. Hollande und Merkel werden nicht so lange in Verdun sein. Aber sie sollten die kurze Zeit dort nutzen, um zu erklären, was auf dem Spiel steht, wenn Europa zerfällt: nicht Billigflüge und Studentenaustausch, sondern Krieg und Frieden. Kein Ort ist dafür geeigneter als Verdun.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2016
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