Süddeutsche Zeitung

Sturm auf das US-Kapitol:Die Scham des Joe Biden

Lesezeit: 3 min

Der gewählte US-Präsident kann seine Wut auf Trump kaum verbergen. Geradezu fassungslos tritt er vor das Volk. Wohlwissend, dass ihm die Hände gebunden sind.

Von Thorsten Denkler, New York

Joe Biden kommt nach seiner kurzen Ansprache doch noch mal nach vorne. Die Frage einer Reporterin hat ihn offenbar dazu animiert. Ob er sich um die Amtseinführung sorge, hatte sie ihm hinterhergerufen, als er schon fast hinter der Bühne verschwunden war. Biden will darauf antworten. "Ich bin nicht beunruhigt", sagt er und hebt seine Mappe mit der Rede von eben wie eine Drohung in die Luft. "Die Amerikaner werden sich erheben. Jetzt." Denn: "Genug ist genug ist genug!"

Das kam einem Wutausbruch schon sehr nahe.

Der Tag hat Biden ganz offenbar nicht unbeeindruckt gelassen. Er hatte an diesem Tag, an dem im Kongress sein Wahlsieg formal bestätigt werden sollte, in seiner Heimatstadt Wilmington im Bundesstaat Delaware eine wirtschaftspolitische Rede halten wollen. Dann aber zerbarsten am Kapitol in Washington Fensterscheiben, fielen Schüsse, drangen Aufrührer in die Büros von Abgeordneten und Senatoren ein. Angefeuert und aufgestachelt von einem amtierenden Präsidenten, der nicht einsehen kann oder will, dass er die Wahl verloren hat.

Einen wie Biden muss so ein Tag ins Mark treffen. Er ist ein Institutionalist, einer, der fest daran glaubt, dass die Demokratie in den Parlamenten gelebt wird. Jetzt musste er aus der Ferne zusehen, wie Trump-Anhänger die Heiligtümer der US-amerikanischen Demokratie beflecken.

In seiner Rede lässt er keinen Zweifel daran, wie sehr ihn das alles trifft. "Ich bin schockiert und traurig darüber, dass unsere Nation, die so lange schon ein Leuchtfeuer der Hoffnung und der Demokratie ist, in einem so dunklen Moment angekommen ist." Das sei "kein Protest", sagt er. "Es ist ein Aufruhr." Ein "beispielloser Angriff auf unsere Demokratie". Und es müsse enden. "Jetzt."

Er hat sich lange damit zurückgehalten, sich zu Trumps haltlosen Behauptungen, er habe doch in Wahrheit die Wahl gewonnen, auch nur zu äußern. Zu irre, zu neben der Spur ist ihm das offenbar, als dass er sich dazu hätte herablassen wollen. Biden hat stattdessen in den Wochen seit der Wahl sein Übergangsteam zusammengestellt, seine politische Strategie verfeinert, Minister nominiert und Ziele für die ersten Tage und Wochen seiner Präsidentschaft ausgegeben. Alles mehr oder weniger im Schatten eines polternden und rumkrakeelenden Präsidenten, der sich der Realität verweigert, dass seine Zeit vorbei ist.

Biden scheint Trump einen letzten Rat geben zu wollen. Einen gut gemeinten. Nicht in Trumps Sinne. Im Sinne der Vereinigten Staaten. "Die Worte eines Präsidenten sind wichtig, egal wie gut oder schlecht dieser Präsident ist", sagt Biden. Im besten Fall könnten die Worte eines Präsidenten inspirieren. Im schlimmsten Fall könnten sie aufstacheln. "Deshalb fordere ich Präsident Trump auf, jetzt ins landesweite Fernsehen zu gehen, um seinen Eid zu erfüllen, die Verfassung zu verteidigen und ein Ende dieser Belagerung zu fordern."

Trump wird sich kurz danach äußern. Aber nicht so, wie Biden es sich vielleicht gewünscht, aber wohl auch nicht ernsthaft erwartet hat. In einem Internet-Video bittet Trump seine Anhänger zwar darum, friedlich zu bleiben. Aber das mit dem Stolz eines Rottweiler-Besitzers, der weiß, dass er seine kläffenden Hunde mit einem Wink zur Ruhe bringen kann. "Ihr seid besondere Menschen", sagt er da noch. Alle großen Social-Media-Dienste haben das Video inzwischen von ihren Plattformen gelöscht, weil es nach ihrer Ansicht geeignet war, die Lage noch brenzliger zu machen.

Mehr als reden kann Biden gerade nicht. Er ist nur der gewählte Präsident. Bis zum 20. Januar, dem Tag seiner Amtseinführung, muss er noch tatenlos zusehen, wie Trump versucht, alles in Schutt und Asche zu legen. Er wird einiges zu tun haben, die Ruinen wiederaufzubauen, die Trump ihm hinterlässt.

"Amerika ist so viel besser als das, was wir heute sehen", sagt Biden. Ein Satz, den er im Wahlkampf oft und mit viel Überzeugung gesagt hat. An diesem Tag aber scheint da Zweifel mitzuschwingen.

Biden will seinen kurzen Auftritt optimistisch beenden: Er bleibe zuversichtlich, was die Möglichkeiten angeht, die das Land habe. "Es gibt nichts, was wir nicht erreichen können, wenn wir es gemeinsam tun." Es klingt ein wenig hilflos, wissend, dass gut hundert Meilen entfernt Menschen auf nichts anderes als Chaos aus sind.

Als letztem Ausweg bleibt dem Katholiken Biden nur ein Gebet: "Möge Gott Amerika schützen. Möge Gott unsere Truppen schützen. Möge Gott all jene schützen, die im Kapitol versuchen, die Ordnung wiederherzustellen."

Seinen letzten Satz kann er kaum beenden. "Ich danke Ihnen. Und es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen", sagt er zu den Reportern. Er senkt sein Haupt schon nach "danke Ihnen". Als würde ihn gerade die Scham überkommen. Die Scham, an einem Tag, der als Festtag des friedlichen Machtwechsels gefeiert werden sollte, eine solche Rede halten zu müssen.

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