Süddeutsche Zeitung

Urteil zu Sicherheitsverwahrung:Hoffnung für die Täter

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Die deutsche Sicherungsverwahrung verstößt gegen die Menschenrechtskonvention, urteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Kommen nun gefährliche Straftäter frei?

Wolfgang Janisch

Das Bundesjustizministerium gerät beim Thema Sicherungsverwahrung unversehens unter Druck. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat am Dienstag überraschend sein Urteil vom Dezember des vergangenen Jahres für rechtskräftig erklärt.

Darin hatte Straßburg Deutschland gerügt, weil die vormalige Höchstgrenze der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren im Jahr 1998 aufgehoben worden war. Seit damals konnte die Inhaftierung rückfallgefährdeter Straftäter über das eigentliche Haftende hinaus im Extremfall unbegrenzt verlängert werden.

Verletzung der Menschenrechtskonvention

Weil davon ein im hessischen Schwalmstadt in Sicherungsverwahrung sitzender Häftling betroffen war, der bei seiner Verurteilung nicht mit der Verlängerung rechnen musste, erkannte der Straßburger Gerichtshof auf eine Verletzung der Menschenrechtskonvention und sprach dem Mann 50.000 Euro Entschädigung zu.

Dagegen hatte die Bundesregierung die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen - ohne Erfolg: Ein aus fünf Richtern bestehender Ausschuss des Gerichts lehnte eine Verweisung des Falls an die Große Kammer ab. Das Urteil ist damit rechtskräftig.

Der vielfach vorbestrafte Täter war im Jahr 1986 wegen versuchten Mordes und Raubes zu fünf Jahren verurteilt worden. Für die Zeit danach ordnete das Gericht die - damals auf zehn Jahre begrenzte - Sicherungsverwahrung an. Das Gericht begründete die Anordnung mit seiner besonderen Gefährlichkeit und seinem Hang zu Gewalttätigkeiten. Beides hatte sich aus einem neurologischen und einem psychiatrischen Gutachten ergeben.

Nachdem der Gefangene seine Strafe verbüßt hatte, beantragte er mehrmals seine Entlassung auf Bewährung - doch das Gericht lehnte dies ab. 2001 verlängerte das Landgericht Marburg die Sicherungsverwahrung über die frühere Höchstdauer von zehn Jahren hinaus.

70 bis 100 Fälle

Brisant ist der Fall, weil die Gerichte damit gezwungen sein könnten, gefährliche Straftäter auf freien Fuß zu setzen, die ebenfalls vom nachträglichen Wegfall der Höchstgrenze betroffen sind.

Dabei geht man von bundesweit mindestens 70, womöglich sogar mehr als 100 Tätern aus, die von der nachträglichen Abschaffung der Höchstgrenze betroffen sind. Bisher haben die Gerichte davon noch Abstand genommen, weil die Straßburger Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist; dies hatte beispielsweise der Bundesgerichtshof in einem Fall angedeutet. Dies könnte nun anders werden.

Derweil arbeitet das Bundesjustizministerium bereits an einer Reform der Sicherungsverwahrung. Diskutiert wird beispielsweise, die nachträglich während der Haftzeit verhängte Sicherungsverwahrung weitgehend einzuschränken und stattdessen größeres Gewicht auf eine bereits im Urteil angeordnete oder dort zumindest vorbehaltene Sicherungsverwahrung zu legen.

Strafe oder Maßregel?

Denkbar ist zudem, dass auf die für den Strafvollzug zuständigen Länder Reformbedarf zukommt. Denn Straßburg hatte das deutsche System, das die Sicherungsverwahrung nicht als "Strafe", sondern als "Maßregel" der Besserung und Sicherung einstuft, grundsätzlich in Frage gestellt: Der Gerichtshof stuft die Sicherungsverwahrung - jedenfalls so, wie sie in Deutschland ausgestaltet ist - ebenfalls als Strafe ein.

Dies könnte zur Folge haben, dass die Länder die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung deutlich anders ausgestalten müssen als den normalen Strafvollzug - beispielsweise mit zusätzlichen Therapieangeboten. Dies wird bundesweit bisher noch sehr unterschiedlich gehandhabt.

In Straßburg sind weitere Verfahren zu dem Thema anhängig. Auch das Bundesverfassungsgericht, das die Verschärfungen des Jahres 1998 vor sechs Jahren gebilligt hatte, wird sich möglicherweise noch in diesem Jahr erneut mit dem Thema befassen. Vor dem Hintergrund des Straßburger Urteils ist es nicht ausgeschlossen, das Karlsruhe seine Linie revidiert. Verfassungsrichter Michael Gerhardt sagte vor wenigen Tagen, er sehe zwischen Straßburg und Karlsruhe kein Konfliktpotenzial über die Sicherungsverwahrung: "Möglicherweise hat das Bundesverfassungsgericht einfach falsch entschieden. So etwas gibt es."

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Quelle:
SZ vom 12.05.2010
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