Süddeutsche Zeitung

Ungarn:Starke Städte im Orbán-Land

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Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony warnt, Sanktionen könnten der Fidesz-Regierung in die Hände spielen. Stattdessen solle Brüssel EU-Gelder direkt an die Kommunen verteilen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Der Oberbürgermeister von Budapest ist seit einem knappen Jahr Star und Hoffnung der ungarischen Opposition. Im vergangenen Herbst gewann Gergely Karácsony in der Hauptstadt den Wettkampf um das Amt des Stadtoberhauptes und leitete damit einen Trend ein, in dem erbitterte Kritiker der Regierung von Viktor Orbán bereits eine Zeitenwende sahen: Damals siegten in mehreren Großstädten und einigen kleineren Kommunen Kandidaten oppositioneller Parteien; der Durchmarsch von Fidesz, die im Parlament mit ihrer Zweidrittelmehrheit lange jede politische Entscheidung durchpeitschen konnte, schien vorerst gestoppt zu sein.

Mittlerweile ist der 45 Jahre alte Politikwissenschaftler aus Nordungarn, der für die grüne, proeuropäische Partei PM (Dialog für Ungarn) antrat, um einige Illusionen ärmer. Dennoch ist er optimistisch, dass die Oppositionsparteien, wenn sie zusammen marschieren und gewinnen, erfolgreich Widerstand gegen die Übermacht von Orbán und seiner Fidesz-Partei leisten können. Dazu, glaubt er, trage die aktuelle Debatte über Ungarns permanente Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, wie sie am Mittwoch im entsprechenden Bericht der EU-Kommission dokumentiert wurden, einiges bei.

Orbán fordert den Rücktritt von Vize-EU-Kommissionschefin Věra Jourová. Zugleich droht er mit dem Veto Ungarns gegen den EU-Haushalt und den Corona-Hilfsfonds, falls damit einherginge, dass die Kommission die Vergabe von Geldern an die Einhaltung demokratischer Standards in den Mitgliedsländern knüpft. So war und ist es aber vorgesehen, wenngleich in stark abgeschwächter Form.

Er sei, sagt Bürgermeister Karácsony der SZ am Donnerstag, wenig überrascht gewesen über den Bericht aus Brüssel, der Ungarn eine Schwächung der Justiz, die Unterminierung der Pressefreiheit und die Untergrabung der Gewaltenteilung vorwirft. "Wir haben das alles bedauerlicherweise genau so erwartet. Das Wichtigste für uns ist jetzt die Konzentration auf die Kommunen, weil wir eines der wenigen verbliebenen Gegengewichte im Land zu Orbáns Machtanspruch sind", sagt er. "In der Hälfte aller großen Städte in Ungarn regieren Bürgermeister der Opposition. Wir sind ein starker Hebel, mit dem wir der Regierung etwas entgegensetzen können." Aber auch Fidesz-Bürgermeister seien bisweilen ein gutes Gegengewicht, weil ihre Interessen nicht dieselben seien wie die der Fidesz-Regierung, sagt Karácsony.

Die von Orbán scharf angegriffene Vize-Kommissionschefin Jourová hatte am Mittwoch in Brüssel gesagt, man sei "in der Vergangenheit naiv gewesen", was den Schutz des Rechtsstaates in den Mitgliedsländern anging, und müsse jetzt stärkeren Druck ausüben. Karácsony warnt allerdings vor Maßnahmen, die Ungarn als Ganzes treffen würden: "Was die EU vermeiden sollte, sind Sanktionen gegen das Land. Das würde den Eindruck erwecken, als bestrafe man die Bevölkerung. Denn das ist genau Orbáns Trick: den Bürgern zu sagen, die EU sei eine Feindin der gesamten Nation, eine Feindin Ungarns."

Brüssel solle die EU-Gelder an der Regierung vorbei direkt an die Kommunen verteilen

Man müsse vielmehr die Regierungspolitik als solche sanktionieren. "Deshalb schlagen wir vor, dass - wenn EU-Fördermittel wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gekürzt würden - diese stattdessen an die Kommunen umgeleitet und ausgezahlt werden." So würden die Bürger profitieren, aber die Regierung könnte nicht weiter ihren antidemokratischen, antieuropäischen Kurs finanzieren, hofft der einflussreiche Kommunalpolitiker.

Dass der Premier in den vergangen Wochen selbst für seine Verhältnisse besonders selbstbewusst und aggressiv aufgetreten war und den Rechtsstaatsbericht "verlogen, absurd und unfundiert" nannte, führt Karácsony darauf zurück, dass er sich besonders sicher fühle. "Dazu kommt, dass das genau seine Taktik ist: Seine Politik basiert auf der Schaffung von künstlichen Konflikten und dem Schüren von Angst. So kann er sich als Retter und Beschützer der Nation hinstellen."

Eben deshalb schlage er neue Verteilungsmechanismen für EU-Gelder vor, um der extrem korruptionsanfälligen Regierungsmaschine den Geldzufluss zu entziehen: "Unsere Initiative wird oft missverstanden als Versuch, die Vergabestrukturen komplett zu ändern. Wir verstehen natürlich, dass Nationalstaaten die zentralen Akteure bei der Zahlung, Verteilung und Entgegennahme von Geldern sind." Aber, so der Oppositionspolitiker, es gebe zahlreiche, bereits bestehende Programme, mit denen Brüssel die Kommunen direkt unterstützen könne. Leider ignoriere die Regierung nämlich das sogenannte Partnerschaftsprinzip im Umgang etwa mit Kohäsionsfonds. Es besage, dass Regierungen gemeinsam mit lokalen Behörden Prioritäten für Investitionen und Subventionen festlegen müssen. "Die ungarische Regierung verneint diese Verpflichtung."

Anstatt den Kommunen zu helfen, sagt Karácsony, blute die Regierung missliebige Stadtregierungen regelrecht aus. "Für eine Solidaritätssteuer führt die Stadt Millionen Forint an die Regierung ab. Budapest ist derzeit Nettozahler in das Regierungsbudget." Zudem sei die Hälfte der staatlichen Parteienfinanzierung mit der Begründung gekappt worden, dass auch die politischen Parteien ihren Anteil beitragen müssten im Kampf gegen die Pandemie. "Fidesz tut das nicht weh, weil die so einen starken, ökonomischen Rückhalt haben. Für kleine Parteien aber ist das eine Menge Geld. Sie alle kämpfen jetzt um das Überleben."

Bei der Parlamentswahl 2022 wollen die Oppositionsparteien mit einer gemeinsamen Kandidatenliste antreten, um sich gegenseitig keine Stimmen wegzunehmen. Dazu werden die Linken und Liberalen mit der einstmals rassistischen und antisemitischen Jobbik kooperieren. Es sei eine Koalition aus sechs Parteien, so Karácsony; und Jobbik sei auf dem Weg zu einer Volkspartei. "Fidesz hat sie längst rechts überholt. Die Regierungspartei manipuliert die öffentliche Debatte, wenn sie uns jetzt vorwirft, wir würden mit der extremen Rechten kooperieren."

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SZ vom 02.10.2020
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