Süddeutsche Zeitung

Krieg gegen die Ukraine:Ausgeliefert in Mariupol

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In der belagerten Hafenstadt wurde ein Theater angegriffen, in dem Hunderte Menschen Schutz gesucht hatten. Viele sollen in einem Luftschutzkeller überlebt haben. Doch die Bombardements gehen weiter.

Von Nicolas Freund, München

Seit Tagen kursieren Satellitenbilder der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol, auf denen Zerstörungen durch das anhaltende Bombardement der russischen Streitkräfte zu erkennen sind. Auf einem der Bilder vom Montag ist auch gut das rote Dach des staatlichen Theaters in einem Park im Stadtzentrum zu sehen. In großen Buchstaben steht auf dem Boden vor und hinter dem Theater auf Russisch "дети" geschrieben - Kinder. Vermutlich, um Piloten von einem Angriff auf das Gebäude abzuhalten.

Unter dem klassizistischen Bau aus dem späten 19. Jahrhundert befindet sich der größte Schutzkeller der Stadt. Hunderte Menschen sollen sich darin seit Tagen vor den pausenlosen Angriffen der russischen Armee versteckt haben. Nicht nur wegen des Bunkers schien dieser Ort vergleichsweise sicher zu sein: Auch durch die Lage in dem zentralen Park sollte eigentlich jedem Angreifer sofort klar sein, dass es sich bei dem Theater nicht um eine militärische Einrichtung handeln kann.

Aber genau dieses Gebäude wurde am Mittwoch bei einem Luftangriff zerstört. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba teilte bei Twitter Fotos, die das Theater vor und nach der Bombardierung zeigen. Auch AFP, Reuters und andere Agenturen verbreiteten Bilder der Zerstörungen. Auf ihnen sind deutlich die Reste der weißen Fassade und des umliegenden Parks zu erkennen. Es scheint, als sei genau der Bühnenturm getroffen worden, der erhöhte Teil des Gebäudes, den viele Theater haben, um Kulissen schnell wechseln zu können. Wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Gebäude aufhielten, ist unklar. Die Organisation Human Rights Watch geht von mindestens 500 aus, ukrainische Behörden sprachen von mehr als 1000.

Erste Berichte lassen hoffen, dass der Bunker dem Angriff mindestens teilweise standgehalten hat. Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Olga Stefanyschyna teilte am Donnerstag mit, etwa 130 Menschen seien bereits aus den Trümmern gerettet worden. Auch andere Parlamentsabgeordnete sprachen nach Medienberichten von Überlebenden, etwa Dmytro Gurin gegenüber der BBC.

Hunderte sollen aber noch verschüttet sein, die anhaltenden Angriffe erschweren die Rettungsarbeiten. Außenminister Kuleba schrieb auf Twitter zu seinem Fotobeitrag, Russland müsse gewusst haben, dass in dem Gebäude Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Teilweise verifizierte Fotos und Videos im Netz zeigen das Theater von innen und außen vor dem Angriff. Auf keinem der Bilder sind Soldaten zu erkennen.

Die russischen Streitkräfte überziehen die eingekesselte Stadt Mariupol seit Tagen mit schweren Luft- und Artillerieangegriffen. Reporter der Nachrichtenagentur AP, die sich in der Stadt aufhalten, berichten von Einschlägen im Minutentakt. Obwohl die russische Armee als nicht besonders treffsicher gilt, ist es unwahrscheinlich, dass das Theater versehentlich zum Ziel wurde.

Helfer dringen nicht durch

Nach Angaben des Stadtrats waren am Donnerstagabend etwa 80 Prozent der Wohnungen in Mariupol zerstört, davon seien rund 30 Prozent nicht wieder aufzubauen. Die russische Armee nimmt auf zivile Opfer in dem Konflikt anscheinend keine Rücksicht, auch in anderen ukrainischen Städten wurden Wohnhäuser, Kliniken und weitere nicht militärische Gebäude bombardiert. In Mariupol fehlt es seit Tagen an Strom und Wasser, Medikamente und Nahrungsmittel sind knapp, ein bereitstehender Hilfskonvoi kann wegen der Kämpfe nicht in das Stadtgebiet vordringen. Auch das nehmen Putins Truppen mit ihrer Belagerungsstrategie wohl in Kauf.

In anderen Teilen von Mariupol soll die russische Armee ebenfalls gezielt gegen die zivile Infrastruktur vorgehen. Ziel eines Luftangriffs war Berichten zufolge ein Schwimmbad, in dem sich Zivilisten in Sicherheit gebracht hatten. In den Trümmern sollen ebenfalls Menschen verschüttet worden sein, Genaues ist noch nicht bekannt. Experten werten dieses Vorgehen als Teil der russischen Kriegsstrategie: Mit solchen Angriffen auf die Bevölkerung soll die Stadt zur Kapitulation gezwungen werden.

Das russische Verteidigungsministerium teilte unterdessen mit, der Vorwurf eines Luftangriffs auf das Theater sei eine Lüge. Russische Streitkräfte würden keine Städte bombardieren.

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