Ukraine im Umbruch:Nur der Zufall kann die Menschen schützen
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Was spielt sich ab im Osten der Ukraine? Der Konflikt in Donbass verwandelt sich in einen Krieg mit Russland. Der kostet die Menschen zwar nicht zwingend das Leben, aber immer die Illusionen.
Gastbeitrag von Serhij Zhadan
In Charkow, der Stadt, in der ich lebe, herrscht kein Krieg. Es gab hier im Frühling Demonstrationen, Massenprügeleien, Versuche, eine "Volksrepublik" auszurufen. Gebäude wurden besetzt, Staatsfahnen heruntergerissen, es gab Aufrufe, Charkow soll sich Russland anschließen. Diese "Volksrepublik" wurde ziemlich hart durch ukrainische Sicherheitskräfte beseitigt. Die kamen nicht aus Charkow sondern aus Winniza. Heute können die Bewohner von Charkow dem Schicksal danken, dass das Abenteuer mit der "Volksrepublik" gescheitert ist, dass die Stadt nicht von irgendwelchen "Kosaken" übernommen wurde, die jetzt den Donbass terrorisieren.
Ganz Donbass unterstützt die Separatisten?
Die Behauptung, ganz Donbass würde die Separatisten unterstützen, ist falsch. Die nördlichen Gebiete des Lugansker Umlandes etwa standen von Anfang an sowohl den selbsternannten Gouverneuren wie der Idee des Referendums skeptisch gegenüber. Heute ist es so, dass es in den Orten, wo es keinen Separatismus gibt, auch keine Bombardements gibt. Ich stamme aus dem Lugansker Umland, wo die Separatisten nichts zu sagen haben, dort leben meine Freunde, meine Verwandten. Natürlich beruhigt mich die Tatsache, dass sie all diese Zeit unter dem Schutz der ukrainischen Nationalgarde leben. Meine Freunde in Donezk und Lugansk dagegen kann nur der Zufall schützen.
Was spielt sich in Donbass ab? Offiziell nennt sich das Ganze "Antiterroroperation". Diese Definition trifft nicht ganz zu, denn nach (offiziellen) Angaben der ukrainischen Armee (und noch wichtiger: nach den unoffiziellen Berichten von Soldaten) kämpft unser Militär im Osten gegen gut ausgebildete russische Soldaten, die bewaffnet sind mit russischen Waffen.
Wir haben uns an russische Panzerkolonnen gewöhnt
Ich erinnere mich, was für einen Schock es vor ein paar Monaten im Netz auslöste, als Videos von Panzern auftauchten, die mit russischen Fahnen durch die Straßen von Lugansk bretterten. Heute haben wir uns an die Meldungen, soundso viele Kolonnen russischer Panzertransporte hätten die Grenze passiert, einfach gewöhnt. Dieser Konflikt verliert immer mehr die Züge einer innerukrainischen Auseinandersetzung, wonach es im Frühling noch aussah, und verwandelt sich immer mehr in offene Gefechte zwischen Ukraine und Russland - in einen Krieg. Die Ukraine kämpft um ihr Territorium und ihre Grenzen, Russland bewaffnet Freischärler und beschießt ukrainische Grenzschützer. Ein Teil der örtlichen Bevölkerung unterstützt die Separatisten, ein Teil schließt sich freiwillig ukrainischen Paramilitäreinheiten an.
Der Großteil der Bevölkerung, all die Zivilisten, von denen so oft die Rede ist, befinden sich in einer hoffnungslosen Lage - zwischen zwei Feuern. Die Bevölkerung des Donbass dient den Separatisten als Geisel, immer wieder berichten Augenzeugen, dass die Milizen Wohnviertel beschießen, um die ukrainische Armee zu diskreditieren. Ob diese Informationen allerdings die Mehrheit der Bevölkerung erreichen, ist zweifelhaft, denn um den Donbass wird ein Informationskrieg geführt, in dem keiner sich an Regeln hält. Menschen, deren Häuser unter Beschuss geraten, interessieren sich wohl auch nicht in erster Linie dafür, wer genau geschossen hat.
Jederzeit kann eine Mine ins Fenster fliegen
Wer heute in Lugansk oder Donezk lebt - egal, ob er noch vor wenigen Monaten den Milizen zugejubelt hat, ob er seitdem seine Begeisterung bereut oder von Anfang an den Separatismus abgelehnt hat - jeder lebt mit der Perspektive, dass ihm eine Mine ins Fenster fliegt. Die ukrainische Armee betont, sie würde nicht auf Zivilisten schießen. Als ob irgendjemand bei solchen Gefechten in der Lage wäre, irgendwas zu garantieren oder zu kontrollieren. Aber man braucht schon viel Phantasie, um von einem "Protest der Lokalbevölkerung" zu sprechen. Dafür hat diese Lokalbevölkerung viel zu viele schwere Waffen und kann mit diesen viel besser umgehen, als man von Bergkumpeln erwartet.
Niemand hat objektive Informationen über das Gesamtbild
Die Ereignisse im Donbass kann man auch deswegen schlecht kommentieren, weil keiner objektive Informationen über das Gesamtbild hat. Mir scheint, dieser Krieg hat unser Verhältnis zu Information an sich verändert. Nachrichten glaubt man nicht mehr, sie sind nicht mehr viel wert. Vertrauen erwecken Augenzeugen, Menschen, die unmittelbar vor Ort sind. Ihre Berichte weichen meistens stark ab von den offiziellen Verlautbarungen aus Kiew und Moskau. Was die russischen Medien betrifft, haben die meisten Ukrainer eh seit langem keine Illusionen mehr, aber man fragt sich: Wozu greifen auch die ukrainischen Medien zu Halbwahrheiten, warum können sie nicht objektiv berichten, wozu wird die Bevölkerung desinformiert?
Unsere Politiker und die Medien, die sie bedienen, haben offenbar aus den Ereignissen der letzten Monate keine Lehren gezogen. Ihre Sprache, trocken und künstlich, unterscheidet sich derart von der Sprache der Soldaten, die den Krieg erleben, und der Zivilisten, die im Kriegsgebiet geblieben sind, weil sie nicht mehr ausreisen konnten oder wollten. Soldaten schreiben emotional, nah an der Wahrheit und nicht immer beherrscht. Genauso wie die Freiwilligen, die de facto einige Funktionen des Staates übernommen haben, zum Beispiel die Aufgabe, die Kampffähigkeit der Streitkräfte zu gewährleisten.
Bürger sorgen dafür, dass die Armee Nahrung bekommt
Das ist ein wesentliches Merkmal der neuen ukrainischen Gegenwart: Es entsteht eine "Volksarmee", weil ein Teil der ukrainischen Gesellschaft begriffen hat, dass niemand außer den Ukrainern ihre Armee versorgen kann. Das klingt ungewöhnlich für den westeuropäischen Leser, aber für uns Ukrainer ist es leider Realität: Bürger sorgen seit Monaten dafür, dass die Armee etwas zum Essen und zum Anziehen hat, sie spenden, was sie können, von Unterwäsche bis zu Panzertransporten (jaja, es stellt sich heraus, dass es in der Ukraine Menschen gibt, die in der Lage sind, dem Militär einen gepanzerten Wagen zu schenken). Das sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft aus als die Verlautbarungen der Regierung. Es hat sich in dieser Gesellschaft etwas so stark verändert, dass man es nicht mehr übersehen kann.
Wir, die Bürger dieses Landes, sind es gewohnt, in permanenter Opposition zur Macht zu leben, zur Staatsmaschinerie. Die Politik hat uns nie besonders gefallen. Die meisten Ukrainer haben all die Jahre zwar ihr Land geliebt, aber keine Sympathien für ihren Staat gehegt. Wir wussten um die Kampfuntauglichkeit unserer Armee, aber wozu braucht man eine Armee, wenn man nicht vorhat zu kämpfen? Wir verstanden, wie tief unsere Polizei korrumpiert ist, aber irgendwie erwartete eh keiner, dass die Polizei einem hilft. Wir ahnten, dass unsere Grenzen auf eine Art geschützt werden, die vor allem diejenigen ernähren soll, die diese Grenzen schützen. Wir wussten mehr als genug über unsere Politiker, unsere Richter, unsere Staatsanwälte. Über unsere Staatssicherheit, unsere Staatsmedien, unsere Steuerämter.
Keiner außer uns kann diesen Staat schützen
Wir wussten alles über diesen Staat, und genau deswegen gefiel er uns nicht. Deswegen begann die Revolution auf dem Maidan. Denn was bedeutet diese viel beschworene "Annäherung an Europa" für die Ukraine? Sie bedeutet die beinahe einzige Gelegenheit, diesen Staat zu ändern, seine Mechanismen umzukrempeln, für Transparenz und Gerechtigkeit zu sorgen.
Und heute stellt sich heraus, dass außer uns niemand diesen Staat schützen kann. Es stellt sich heraus, dass es kein Problem ist, über unsere Grenze zu marschieren und Krieg in unserem Land zu führen. Und zum ersten Mal keimt das Bewusstsein, dass wir unser Land und unsere Freiheit selber verteidigen müssen. Krieg raubt dir nicht immer dein Leben, aber er raubt dir immer deine Illusionen. Man kann nur bedauern, dass vieles für uns erst dann offensichtlich wird, wenn Städte zerstört und Menschen getötet werden.
Die Milizen müssen verschwinden
Ich weiß nicht, wann der Krieg zu Ende geht. Dafür reicht es nicht, dass die Milizen sich für Verhandlungen bereit erklären. Sie müssen verschwinden. Alles andere wäre eine Legitimierung von Terror. Wie Tausende Ukrainer suche ich diese Tage nach Freunden und Bekannten in Lugansk und Donezk, ich versuche sie zu unterstützen, wie ich kann. Einige meiner Freunde haben diese Städte verlassen und versuchen sich woanders zurechtzufinden.
Ich will nicht, dass Zivilisten sterben. Dass Soldaten sterben. Dass der Donbass zerstört wird. Wichtig ist, dass wenn hier wieder Frieden herrscht, all diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die diesen Krieg entfacht haben und die heute Öl ins Feuer gießen, um Karriere oder Geld zu machen. Es geht nicht um Rache. Es geht um Gerechtigkeit.
Aus dem Russischen von Tim Neshitov
Zur Person: Der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, geboren 1974, lebt in Charkow. Für seinen Roman " Die Erfindung des Jazz im Donbass" (Suhrkamp) erhielt er im Juli den Literaturpreis "Brücke Berlin".