Süddeutsche Zeitung

Tunesien:"Jetzt ist der Tod überall und der Extremismus blüht"

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Vor fünf Jahren beschlagnahmte eine Beamtin in Tunesien einen Gemüsestand. Heute wirft sie sich vor, damit den Arabischen Frühling ausgelöst zu haben.

Am 17. Dezember 2010 zündete sich der Gemüseverkäufer Mohammed Bouazizi in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst an - aus Protest gegen die Willkür des Staates und Demütigungen durch Behörden. Sein Tod war der Auslöser des sogenannten Arabischen Frühlings - in Tunesien und anderen Staaten der Region erhoben sich die Menschen gegen brutale und diktatorische Regime.

Vor der Verzweiflungstat des Gemüsehändlers hatte eine staatliche Kontrolleurin seinen Verkaufsstand beschlagnahmt und ihm so seine Lebensgrundlage geraubt. Nun hat sich diese Beamtin öffentlich geäußert: "Ich habe den Arabischen Frühling ausgelöst. Jetzt ist der Tod überall und der Extremismus blüht", sagte Faida Hamdy dem britischen Telegraph mit Blick auf die Lage im Nahen Osten und Nordafrika.

In vielen Ländern scheint die Lage am fünften Jahrestag der Selbstverbrennung Bouazizis schlimmer als zuvor. In Syrien ist ein Ende des brutalen Bürgerkriegs nicht abzusehen. Ganz im Gegenteil: Das Erstarken der Terrormiliz Islamischer Staat hat dort und im Nachbarland Irak zu neuen Grausamkeiten und andauernden Kämpfen geführt. Auch in Ägypten wurden die Hoffnungen auf einen demokratischen Aufbruch im Keim erstickt - trotz des Sturzes von Machthaber Hosni Mubarak.

Libyen gilt als "failed state", wenn auch die Unterzeichnung eines UN-Friedensplans durch die rivalisierenden Parteien an diesem Donnerstag erstmals seit Langem einen vorsichtigen Optimismus nährt.

"Die Tunesier leiden wie zuvor"

Manchmal wünschte sie, sie hätte den Verkaufsstand nicht konfisziert, sagte die Kontrolleurin Faida Hamdy der britischen Zeitung. "Ich fühle mich für alles verantwortlich." Manchmal mache sie sich Vorwürfe und sage sich, dass das alles nur wegen ihr passiert sei. Sie habe Geschichte gemacht - doch ohne etwas zum Besseren zu verändern. "Inzwischen leiden die Tunesier wieder wie zuvor."

Doch trotz der Verzweiflung Hamdys über die Armut der Tunesier - letztlich ist das Land das einzige, das in gewisser Weise erfolgreich aus den Wirren des Arabischen Frühlings hervorgegangen ist. Auch wenn immer wieder islamistische Anschläge das Land erschüttern, so konnten sie doch bisher die junge Demokratie nicht erschüttern.

"Mohammed Bouazizi und ich sind beide Opfer", sagt Hamdy. "Er verlor sein Leben und meines ist nicht mehr das gleiche." Die Beamtin wurde vom Regime inhaftiert, als die Proteste in Tunesien begannen. Erst nach dem Fall von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali wurde sie wieder entlassen. Heute sagt sie: "Wenn ich auf die Region und mein Land blicke, bereue ich es alles."

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